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Tanya Tagaq "Eisfuchs"

Verlag Antje Kunstmann

Sinnsuche bei -40 Grad in Tanya Tagaqs „Eisfuchs“

Die Musikerin Tanya Tagaq ist im kanadischen Nunavut am nördlichen Eismeer aufgewachsen und erzählt in ihrem Debütroman „Eisfuchs“ nicht nur von Mutproben und heimlichem Knutschen bei -40 Grad, sondern auch von Missbrauch und Gewalt, Mythen und zerbrechenden Gemeinschaften inmitten einer übermächtigen Natur.

Von Katharina Seidler

Mir wird klar, dass die Kälte nicht böse ist. Die Kälte will einfach nur, dass nichts verrottet. Die Kälte will keine Veränderung. Die Kälte will, dass alles sauber und ordentlich ist, und unser leidenschaftlicher, erhitzter Zustand passt einfach nicht zum sparsamen Wesen der Kälte. Die Kälte will uns reinwaschen, indem sie unser Leben aufsaugt und uns in ihren Zustand überführt.

Nicht nur die Kälte ist den Menschen am nördlichen Polarkreis ständige Begleiterin, auch der Wind - der Kältemacher, der Todbringer - die monatelange Dunkelheit und die furchterregenden Polarlichter bestimmen das Leben der indigenen Bevölkerung im nordkanadischen Archipel Nunavut. Die Natur tritt im literarischen Debüt der Musikerin Tanya Tagaq als überirdische Urmutter auf. Sie ist brutal und kompromisslos, aber sie spendet auch Leben und Kraft, Nahrung und spirituellen Trost.

Die Füchse sterben. Ich trauere um sie, dabei ist mir klar, dass es gefährlich ist, um die zu trauern, die nicht um mich trauern würden. (…) Mitgefühl ist etwas für Privilegierte. Mitgefühl ist nichts für die Natur.

Die jugendliche Ich-Erzählerin streift in „Eisfuchs“ mit ihrer Freundesbande durch die Tundra. Sie brechen in Jagdhütten ein, knutschen und rauchen, erforschen liegengebliebene Schiffe oder paddeln auf improvisierten Flößen unter Lebensgefahr über das Eiswasser. Zum einen ergeben sich hierbei ganz triviale Alltagskomplikationen: Wimperntusche rann uns über die Gesichter. Schönheitsprobleme bei minus vierzig Grad. Zum Anderen offenbart sich bereits ab der allerersten Seite der Geschichte Ungeheuerliches. Alkoholismus und schwerster sexueller Missbrauch, sei es durch Lehrer, Verwandte oder zufällig ins Zimmer stolpernde Betrunkene, scheinen an der Tagesordnung zu stehen. Die Elterngeneration überlässt die Jugendlichen größtenteils sich selbst, man schaut weg und verleugnet.

Tanya Tagaq

Dave Brosha

Tanya Tagaq

Als Musikerin ist die Neo-Autorin Tanya Tagaq schon seit über zwanzig Jahren aktiv. Sie ist die wohl prominenteste Vertreterin des Katajjaq, des traditionellen Kehlkopfgesangs der kanadischen Inuit-Völker. Sie stöhnt, schreit, summt und zittert, schnappt nach Luft und atmet sich in Trance – als Zuhörerin bleibt man mitunter im wahrsten Sinne des Wortes atemlos zurück. Ihre Virtuosität und Kompromisslosigkeit hat Tanya Tagaq viel Aufmerksamkeit in der Avantgarde-Musikwelt eingebracht, sie arbeitete mit Menschen wie Björk, Mike Patton oder dem Kronos Quartett zusammen und erhielt 2014 für ihr Album „Animism“ den renommierten kanadischen Polaris Music Prize.

Die historischen und politischen Hintergründe ihrer Kunst sind grausam. Im Zuge großangelegter Aneignungen und Missionierungen wurden die Ureinwohner Kanadas, nomadische Völker der Inuit- und der Metis-Kultur, jahrhundertelang vertrieben, umgesiedelt und in Armut, Depression und Suizid getrieben. In sogenannten Residential Schools wurden Kinder ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Familien, ihrem Lebensraum und Kulturkreis entrissen und zu „ordentlichen Christen“ umerzogen, und zwar bis in die 1990er Jahre hinein.

Auch Tanya Tagaqs Familie war von solchen Umsiedelungs- und Schulprogrammen der kanadischen Regierung betroffen. Den Kindern wurde der Gebrauch der traditionellen Sprache Inuktitut verboten, was zu einem massiven Sprach- und Kulturverlust geführt hat. Noch heute sind die Selbstmordraten bei Angehörigen der indigenen kanadischen Völker um 20 Prozent höher als beim Rest der Einwohner; die bisherigen Aufarbeitungs- und Entschuldigungs-Initiativen der kanadischen Regierungen der letzten 10 Jahre bezeichnet die Künstlerin als scheinheilig und nicht weitreichend genug.

In Hinblick auf das Verbot ihrer Muttersprache und Kultur ist also bereits die Verwendung der Sprache Inuktitut und der traditionellen Gesangstechnik Katajjaq bei Tanya Tagaq ein politisches Statement. In ihrer Musik erhebt sie unermüdlich Anklage und schafft Aufmerksamkeit für die Geschichte und Situation ihres Volkes, während sie zeitgenössische Musikästhetiken mühelos in ihre Kunst integriert. Bei der Entgegennahme des Polaris Music Prize liefen hinter ihr die Namen von 1.200 vermissten und ermordeten indigenen Frauen und Männern über die Leinwand, und ihnen widmet sie ihren Debütroman ebenso wie „den Überlebenden der Residential Schools“.

Tanya Tagaq "Eisfuchs"

Verlag Antje Kunstmann

„Eisfuchs“ von Tanya Tagaq ist in der Übersetzung von Anke Caroline Burger und mit Illustrationen von Jaime Hernandez im Verlag Anke Kunstmann erschienen.

Ähnlich ihrer Polar-Punk-Musik ist auch Tanya Tagaqs Schreiben an keine bekannte literarische Form gebunden. Prosapassagen wechseln sich in „Eisfuchs“ mit Zeichnungen und Lyrik ab, ein Gedicht davon sogar auf Inuktitut, und Alltagserzählungen kippen unverhofft in magischen Realismus, wenn die Ich-Erzählerin in spirituellen Kontakt mit der Natur tritt. So beschreibt die Siebzehnjährige etwa das Zustandekommen ihrer Schwangerschaft als brutale Vergewaltigung durch die Polarlichter.

Es brennt in meinen Nasenlöchern, als das grüne Licht über mein Gesicht und meine Wangen flackert. Ich stöhne, als es mir in die Nase und in die Nebenhöhlen steigt und alles in mir ausfüllt. (…) die Folter löst sich in Extase auf, als mir ein großer Lichtsplitter in die Kehle gestoßen wird. (…) Durch Höllenqualen werde ich geheilt.

Sexuelles Erwachen und gleichzeitige Abtötung der Sexualität durch Gewalt, Coming-of-Age, politische Anklage und spirituelle Sinnsuche in einer Gemeinschaft, die ihre uralten Mythen beinahe schon verloren hat – „Eisfuchs“ ist eine wuchtige Erzählung, stellenweise beinahe unerträglich schmerzhaft, andernorts auch etwas zu formlos ausufernd. In jedem Fall aber offenbaren sich darin die gewaltigen Kräfte, die unser Dasein zwischen Natur und sogenannter Zivilisation, menschlicher Grausamkeit und Gemeinschaft bestimmen.

Tiefer Atemzug
Eis in der Lunge
Frosch in der Kehle
Lava im Bauch

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