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Mädchen Raya im Film "Pelikanblut"

Pelikanblut

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„Pelikanblut“: Nervenzerreißendes Sozialdrama mit Gruselfaktor

Der Film der deutschen Regisseurin Katrin Gebbe ist ein Drama, das hart an die Grenzen des Aushaltbaren geht und dabei mit dem Horrorgenre liebäugelt.

Von Jan Hestmann

Ein sogenanntes Problemkind bringt das Familienglück gehörig ins Wanken. Diese Prämisse kommt uns bekannt vor. Erst vergangenes Jahr ist ein solcher deutscher Film in die Kinos gekommen und hat für Zähneknirschen in den Sälen gesorgt, nicht nur bei werdenden Eltern. „Systemsprenger“ hat der Film geheißen, von Nora Fingenscheit. Offenbar hat aber auch eine andere deutsche Regisseurin zur etwa selben Zeit die Idee gehabt, diese Ausgangslage für ihren neuen Film zu wählen: „Pelikanblut“ von Katrin Gebbe verharrt aber nicht im Korsett des Sozialdramas, sondern driftet im Verlauf des Films ab in die düsteren Gefilde des Horrorkinos.

Aber eins nach dem anderen. Zusammen mit ihrer 9-jährigen Adoptivtochter Nicolina lebt Wiebke (Nina Hoss) auf einem Pferdehof, wo sie Polizeipferde trainiert. Weil sich ihre Tochter eine Schwester wünscht, entscheidet sich Wiebke dazu, noch ein zweites Mädchen zu adoptieren. So lernt sie die 5-jährige Raya kennen. Wie auch Nicolina ist Raya Bulgarin (wie wir im Film erfahren, ist es alleinerziehenden, berufstätigen Frauen nicht gestattet, innerhalb Deutschlands zu adoptieren).

Mädchen Raya im Film "Pelikanblut"

Pelikanblut

Nachdem sich die kleine Raya bei ihrer neuen Familie am Ponyhof eingelebt hat, beginnt sie, sich zunehmend eigenartig und widerwillig zu benehmen. Es kommt zu immer häufigeren kleinen Eskalationen. Zuhause schmeißt sie das Geschirr durch die Luft, im Kindergarten beißt sie einmal ein anderes Kind. Der Kinderarzt empfiehlt Wiebke schließlich, mit Raya zu einem Psychotherapeuten zu gehen. Dessen Diagnose kommt wie ein wuchtiger Schlag direkt in Wiebkes Gesicht. Raya leide an einer schweren Beziehungsstörung, verursacht durch ein frühes Trauma, die sich über die Jahre immer weiter ausgeprägt hat. Die fatale Folge: Raya ist nicht imstande Gefühle zu empfinden.

Der Pelikan ist Teil der christlichen Ikonografie. Dem christlichen Pelikanmythos zufolge, der seinen Ursprung bereits in der Antike hat, rissen sich Pelikanmütter die eigene Brust auf, um mit ihrem Blut die vom Hungerstod bedrohten Pelikanküken zu füttern.

Sozialdrama trifft auf Gruselkino

Bis dahin spitzt sich „Pelikanblut“ zum knallharten Sozialdrama zu, das von Minute zu Minute auswegsloser erscheint. Rayas Ausbrüche werden heftiger, Wiebkes Freunde beginnen, sich von ihr abzuwenden. Nina Hoss spielt hier die Mutter, die sich in ihrer kompromisslosen Liebe zu ihren Töchtern bis fast hin zur Selbstzerstörung aufopfert und dabei immer wieder gegen eine Wand läuft. Als die Medizin aus ihrer Sicht keine Antworten mehr für ihre familiäre Misere bereit hält, gerät Wiebke in okkulte Kreise, deren Hilfe sie zum Zeitpunkt der maximalen Verzweiflung annimmt.

„Pelikanblut“ ist eine durch und durch unangenehme Seherfahrung und ein spektakulärer Versuch, nervenzerfetzendes Sozialdrama mit unheimlichem Genrekino zu vermählen. Der seelische Horror schwappt auch immer stärker über in einen betont körperlichen. Dieser Grusel wird verstärkt durch Rayas Aussagen, nicht sie, sondern ein für Wiebke nicht sichtbares Wesen sei für die Ausbrüche verantwortlich.

Dieses Crossover-Experiment zwischen Drama und Grusel geht etwas auf die Kosten der Charakterzeichnung unserer Titelheldin Wiebke. Etabliert als bodenständige Realistin mit monströsem Kampfgeist, können wir ihre späteren haarsträubend irrationalen Handlungen nur noch schwer bis gar nicht mehr nachvollziehen. Das ist ein Opfer, das „Pelikanblut“ zugunsten seines genreverliebten Showdowns bringt. Aber Opfer passen ja auch wieder ganz gut zu diesem Film, der im Kern einen altchristlichen Habitus aufgreift.

„Pelikanblut“ kommt am 16. Oktober 2020 in unsere Kinos.

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