FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Szenenbild aus dem Film Se7en

New Line

Killer, Kunst & Kontroversen: „Se7en“ ist 25 Jahre alt

Eine Verbeugung vor David Finchers finsterem Thriller, der noch immer mit verstörenden Wendungen fesselt und nebenbei viele düstere Aspekte der Popkultur auf den Punkt bringt.

Von Christian Fuchs

Das schlimmste an diesem Film, denke ich mir auch beim Wiederansehen, ist noch immer dieser dauernde Regen. Natürlich klingt das dekadent. Dreht sich David Finchers Ausnahme-Thriller „Se7en“ doch um eine überaus brutale Mordserie.

Filmpodcast

Radio FM4

Auch der FM4 Filmpodcast beschäftigt sich diese Woche mit dem Kultfilm „Se7en“ anlässlich seines 25. Geburtstages.

Aber das bizarr in Szene gesetzte Grauen der Leichenfunde lässt sich als abgebrühter Horrorfan durchaus verdauen. Die Wetterverhältnisse eher weniger. Man möchte Morgan Freeman und Brad Pitt, die als Detectives ständig durchnässt durch die Szenerie irren, am liebsten persönlich einen Schirm in die Hand drücken.

1995, als das Serienkiller-Epos erscheint, passt die ausgesprochen triste Stimmung des Films perfekt zum damaligen Image des Regisseurs. Mit seinem Debütstreifen „Alien 3“, dem pessimistischsten Teil der Weltraum-Horror-Saga, frustriert David Fincher zuvor viele Genrefans. Mit „Se7en“ untermauert er dann seinen Ruf als Hollywoods neuer Prince of Darkness.

Die an eine biblische Plage erinnernden Sturzfluten, die auf eine anonyme Großstadthölle herabprasseln, verstärken perfekt den apokalyptischen Grundton der Geschichte. Ein mysteriöser Killer mordet auf den Spuren der sieben katholischen Todsünden: Völlerei, Habgier, Trägheit, Wollust, Hochmut, Neid, Zorn. Der abgeklärte Kriminalbeamte Somerset (Freeman) und sein hitziger junger Kollege Mills (Pitt) tappen bei der Ermittlung im Dunkeln, im mehrfachen Sinn. Nur von flackernden Taschenlampen erleuchtet präsentiert uns „Se7en“ die Opfer in wüsten Verrenkungen und grässlichen Posen.

Szenenbild aus dem Film Se7en

New Line

Berüchtigtes Ende, berühmte Titelsequenz

Als sich der Täter vor Vollendung seines Masterplans freiwillig der Polizei stellt, in einer der gruseligsten Sequenzen des Films, entpuppt sich dieser tatsächlich als religiös motivierter Rächer. Ein typisch irrer Filmpsychopath ist dieser John Doe (Kevin Spacey) aber nicht. Sondern ein komplett in sich ruhender Kerl, der milde schmunzelnd vom Ende der Welt erzählt. Nur um Somerset und Mills schließlich in einen der verstörendsten Showdowns des Mainstreamkinos zu lotsen.

„What’s in the Box?“ wird Mills dabei hysterisch brüllen, mitten in einer verlassenen Landschaft stehend, während der alte Somerset den allerletzten Funken Glauben an die Menschheit verliert. Das berüchtigte kontroverse Ende, das einem den Boden unten der Füßen wegzieht, wäre übrigens beinahe von den Produzenten verhindert worden. Aber neben David Fincher setzt sich auch Kassenmagnet Brad Pitt energisch dafür das kompromisslose Originaldrehbuch von Andrew Kevin Walker ein.

„Se7en“ ist aber nicht nur eine Studie in Sachen Hoffnungslosigkeit, verpackt in einen beklemmenden Thriller. Der Film bringt auch viele düstere Aspekte der 90ies-Popkultur auf den Punkt. Das beginnt schon mit der berühmten Titelsequenz. Die Credits konfrontieren uns, mittels übereinander geblendeter Collagen, mit den Notizbüchern und Skizzen des Killers. Eine Stilübung in Sachen visuelles Sampling, die zum Rieseneinfluss für unzählige Film- und Serien-Vorspänne wurde - und eine eigene Ästhetik begründete.

Szenenbild aus dem Film Se7en

Collagen mit den Notizbüchern und Skizzen des Killers

Krakelig hingekritzelte weiße Sätze vor schwarzem Hintergrund in Verbindung mit Fotomontagen zitieren zusätzlich das für die Dekade maßgebliche Layout des Grafik-Innovators David Carson, der mit dem Musikmagazin „Raygun“ die Printwelt revolutioniert. Bewusst verschrammte, braun getönte Leichen-Stillleben lassen an die Bilder des abgründigen Fotografen Joel Peter Witkin denken.

Und dann ist da der Sound, der diese irritierende Zitatflut untermalt. Mit einer Instrumental-Version des Nine Inch Nails-Erfolgssongs „Closer“ eröffnet sich in „Se7en“ gleich ein Feuerwerk der Referenzen. Das Musikprojekt von Trent Reznor steht für die massenkompatibelste Ausformung der Industrial Culture, die ihre Ursprünge in der britischen Punkexplosion um 1976 hat. Noise-Pioniere wie Throbbing Gristle bezogen sich seinerzeit auf Einflüsse aus dem Wiener Aktionismus und der Body Art, es ging darum, den Körper direkt und auf drastische Weise in die Kunst miteinzubeziehen.

Nine Inch Nails wirken zwar wie purer Alternative-Pop im Kontrast zu den schroffen Industrial-Begründern. Aber die Version im „Se7en“ Vorspann wurde von der britischen Formation Coil remixt, deren Gründer Peter Christopher zuvor bei Throbbing Gristle spielte. Und: Trent Reznor hat den Song „Closer“ im ehemaligen Haus von Roman Polanski und Sharon Tate aufgenommen, wo die Schauspielerin 1969 von der Charles Manson-Sekte ermordet wurde.

Szenenbild aus dem Film Se7en

Interscope

Von der Performance-Kunst zum Art-Murder

Wem jetzt schon der Kopf raucht wegen all der Verbindungen: Man könnte über all die (sub-) kulturellen Vernetzungen in „Se7en“ tatsächlich Doktorarbeiten schreiben. David Fincher zeigt uns nicht nur einen Killer, der seine Opfer wie Body-Art-Tableaus arrangiert. Wie ein Kompendium sammelt der Film Material zur „Verwertung“ des Körpers in der Kunst. „I thought he was one of those performance artists“, sagt ein Sexshop-Besitzer, der John Doe einen möderischen metallenen Dildo verkauft, zur Polizei, „the sort of guy that pisses in a cap on stage, then drinks it – performance art.“

Auf diese Anspielungen verweist auch der Song, der im Abspann erklingt: „The Heart’s Filthy Lesson“ von David Bowie. Enthalten ist das Stück auf dessen 1995 erschienenem Tonträger „1. Outside“. Ein Konzept-Album über die Grenzauslotung exzessiver Kunstproduktion, in dessen Booklet Verweise auf Damien Hirst oder die „Viennese castrationists“ zu finden sind. Letzteres eine Anspielung auf die symbolischen Selbstkastrationen des Wiener Aktionisten Rudolf Schwarzkogler und sein Umfeld, in dem mit Tiereingeweiden, Blut, Sperma, und Exkrementen gearbeitet wurde.

Zudem schlüpft das Pop-Genie Bowie – der sich in verschiedenen Interviews als Fan von Hermann Nitsch ausweist – auf dem Album in die Rolle eines Detektivs, der sich auf „art-murder“ und „concept-muggins“ spezialisiert hat. Wenn David Fincher „The Heart’s Filthy Lesson“ in den Schlusscredits einsetzt, drückt er damit eindeutige Knöpfe. Und rückt auch die Taten des religiösen Fanatikers John Doe in den Bereich des „art-murder“.

Szenenbild aus dem Film Se7en

New Line

Durcheinandergewirbelte Stereotypen

In meiner eigenen Diplomarbeit zum Thema „Körperkino“ notiere ich über „Se7en“: „Der durchbohrte, vernarbte, gedehnte, tätowierte und bemalte Körper ist zu einer neuen Spielwiese Hollywoods geworden. Im freien Flottieren der Zeichen werfen die schmerzlichen Signaturen des Körpers ihre Schatten in die Massen des Mainstream-Publikums. Auch hier werden sie ihre schwelenden Spuren hinterlassen.“

Das klingt zugegeben pathetisch, aber der Film funktioniert natürlich auch komplett abseits postmoderner Zitatfetzen. Alleine die eigentümliche Chemie von Morgan Freeman und Brad Pitt fasziniert. Man kennt 1995 ähnlich gegensätzliche Duos bereits aus Actionfilmen und Buddy-Movies wie „Lethal Weapon“ und „Die Hard“. Aber der extrem belesene afroamerikanische Somerset und Mills, der White-Trash-Bub mit Bildungslücken, wirbeln Stereotypen nocheinmal durcheinander.

Die heutige Lifestyle-Unternehmerin Gwyneth Paltrow agiert als junge Ehefrau von Brad Pitt zwar eher im Hintergrund. Sie begeistert aber hier als charismatische Schauspielerin, deren Aura in einem Hitchcock-Klassiker bestens aufgehoben wäre. Kevin Spacey, mittlerweile Persona Non Grata, einst Shootingstar, legt die Figur des John Doe unvergesslich gespenstisch an. Letztlich ist aber Kameramann Darius Khondji das wirkliche Aushängeschild des Films, Schrecken und Style verschmelzen.

Szenenbild aus dem Film Se7en

New Line

David Fincher hat sich in den 25 Jahren seit „Se7en“ zu einem Regiemeister entwickelt, der in keine Schublade mehr passt. Mit „Zodiac“ und der Streamingserie „Mindhunter“ kehrt er später, auf virtuose Weise, nochmal ins Serienkiller-Terrain zurück. Dabei geht es aber um unbedingten Realismus und glaubwürdige Psychologie. Morde mit Performancekunst-Hintergrund dagegen, untermalt von Industrial-Rock, mit dem radikalsten Ende ever: It’s a very 90ies thing.

mehr Film:

Aktuell: