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Bilder aus dem Comic "Ausnahmezustand" von James Sturm

Reprodukt Verlag

COMIC

„Ausnahmezustand“: James Sturm zeichnet Beziehungselend in Zeiten von Trump

Beziehung gescheitert, die Kinder anstrengend, im Job übern Tisch gezogen und Trump gewinnt die Wahl. Ein „Ausnahmezustand“ in der gleichnamigen großartigen Graphic Novel von James Sturm.

Von Zita Bereuter

2016 wird Donald Trump zum neuen US-Präsidenten gewählt. Der amerikanische Zeichner und Autor James Sturm kann das wie so viele kaum fassen: „Überall um mich herum herrschte eine Art Schockstarre und Fassungslosigkeit in Hinblick auf Trumps politischen Aufstieg. Mir schien, als würde die Hälfte der Bevölkerung sich fragen: ‚Wie konnte es so weit kommen? Haben wir was verpasst?‘ Ich habe mich nur noch mit dem Wahlkampf beschäftigt, hing ständig am Handy und habe die News verfolgt. Ich glaube nicht, dass ich mich auf etwas anderes hätte konzentrieren können, also habe ich meine Geschichte in der Gegenwart platziert. So konnte ich besser verstehen und verarbeiten, was in meinem Land vor sich ging. Und ich konnte das Erlebte festhalten.“

James Sturm ist Zeichner, Autor, Verleger, Lehrer und Mitbegründer des Center for Cartoon Studies in Vermont (Tillie Walden hat z.B. dort studiert) und gehört für viele zu einem der umtriebigsten in der US-Independent-Comicszene.

Für das US-Online-Magazin SLATE zeichnet er in Echtzeit die Geschichte eines Paares, dessen Beziehung zusammenbricht wie das gesellschaftliche System. Aktuelle Ereignisse wie das TV-Duell oder Thankgiving baut er in die Geschichte ein, die 2019 in den USA unter dem Titel „Off Season“ in Buchform erscheint, 2020 unter „Ausnahmezustand“ die von Sven Scheer übersetzte deutsche Fassung im Reprodukt Verlag.

Bilder aus dem Comic "Ausnahmezustand" von James Sturm

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Auf den Hund gekommen

Die Beziehung des Ich-Erzählers Mark mit Lisa ist gescheitert, er ist frustriert, mit den Kindern immer wieder mal leicht überfordert und im Job wird er über den Tisch gezogen. Bis vor kurzem lebte Mark mit Lisa und den Kindern in einem Haus, beide unterstützten den Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders. „Ich hatte auch einen Bernie-Sticker auf meinem Pick-Up. Aber den musste ich verkaufen, um den Umzug in die Wohnung zu finanzieren. Ohne Pick-Up und Ersparnisse muss ich mich jetzt bei anderen verdingen.“ Mittlerweile nerven ihn die ehemaligen Sanders- und neuerdings Hillary-Unterstützer, denn genau die gehören zu dem Establishment, das ihm das Leben noch schwerer macht und das mit seinen Problemen und Sorgen wenig gemein hat. „Klar, Trump ist ein Arschloch auf zwei Beinen, aber Hillary ist einfach derselbe alte Mist noch mal. Nicht, dass ich Trump wählen würde, aber immerhin ist er sein eigener Herr.“

Mark stammt aus einer einfachen Arbeiterfamilie, während Lisa immer privilegierter und wohlhabender war. Für Mark ist es schwierig, die Teilzeitbetreuung der Kinder Suzie und Jeremy und seine Baustellenjobs zu vereinen. Nicht nur beruflich versucht er, Kaputtes zu reparieren und alles halbwegs am Laufen zu halten. Mehr und mehr verliert er sein herkömmliches Leben und driftet in einen Ausnahmezustand ab.

Nichts läuft rund - ein gut gemeinter Ausflug mit den Kindern ans Meer ist ein einziger Reinfall. Sie sind zu wenig warm angezogen, es ist fad und deprimierend - genau wie sein Leben. „Wahrscheinlich hätte ich mir den Wetterbericht ansehen sollen. Oder mal darüber nachdenken, wieso im November niemand ans Meer fährt.“ Schließlich ist Nebensaison, also Off Season – so auch der Originaltitel. Dieses Nebensaisongefühl, wo das Beste bereits vorbei ist oder das Neue noch nicht begonnen hat, wo einem vieles verwehrt bleibt und nicht nur die Natur kalt ins Gesicht bläst, dieses Gefühl prägt die Geschichte.

Bilder aus dem Comic "Ausnahmezustand" von James Sturm

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Hinzu kommen seine alten und kranken Eltern, um die sich Mark viel zu wenig gekümmert hat. Als Sohn fühlt er sich entfremdet und mit seiner eigenen Vaterrolle ist er auch nicht zufrieden. „Ich höre Suzie schluchzen. Ich sollte sie trösten und beschwichtigen, ihr sagen, dass alles wieder gut wird. Sie anlügen. Aber etwas Hartes in mir hält mich davon ab.“

Alles wird gut – eine Lüge

James Sturm erzählt nicht nur eine sensible Beziehungsgeschichte, sondern zeichnet ein Bild des gegenwärtigen Amerikas. Alle Protagonisten stellt er als Menschen mit Hundeköpfen dar. Beeindruckend sind die emotionalen menschlichen Züge, die er in die Gesichter legt. Diese Verfremdung und Abstraktion macht das Erzählte noch eindringlicher, die Graphic Novel noch beeindruckender und fast noch menschlicher.

Bilder aus dem Comic "Ausnahmezustand" von James Sturm

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Stilistisch folgt er in diesem querformatigen Buch einem strengen Raster: Auf jeder Seite sind zwei gleich große Panels, also Bilder, mit einem Textblock für Marks Gedanken bzw. inneren Monologe. Dialoge hingegen schreibt er in Sprechblasen. Mit klarem Strich schafft er in grau-blau Tönen eine stimmige Atmosphäre, die gleichzeitig ruhig wie deprimierend wirkt.

Äußerst gekonnt spielt er auch mit der Ton-Bild-Schere. Das Geschriebene und das Gemalte liegen da mitunter weit auseinander und erzeugen so eine ganz eigene Ebene: Im großartigen Finale erzählt er Grundlegendes von der Beziehung zwischen Mark und Lisa, während auf der Bildebene eine Katze würgt. Und würgt. Und sich schließlich mehrfach übergibt. Es klingt komisch, aber noch nie war Kotzen so hoffnungsvoll.

Bilder aus dem Comic "Ausnahmezustand" von James Sturm

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The Real Donald Trump

Trump darf man nicht unterschätzen, meint James Sturm in einem Interview. „Was die Wahlen im November anbelangt, fällt es schwer, zuversichtlich zu sein. Trump wird alles in seiner Macht Stehende tun, um sich an sein Amt zu klammern.“ Dennoch bleibt er optimistisch und hofft auf einen Wechsel. „Man darf die Hoffnung nicht verlieren, dass sich die Dinge auch mal zum Besseren wenden können.“ Und über die Zukunft Amerikas schreibt er: „Das Handtuch in den Ring zu werfen, ist keine Option.“

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