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Wegweiser zur Covid-Teststation in Manchester

APA/AFP/Oli SCARFF

ROBERT ROTIFER

UK im Herbst 2020: Was alles reingeht

Die Welt des Desasterkapitalismus, sie ist auch nur ein Dorf, wo jeder jeden kennt. Korruption, Inkompetenz und Feilschen um Menschenleben, so fühlt sich Großbritannien im Herbst 2020 an.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Wie ich immer vorausschicke, ist das hier eine Geschichte aus einem anderen Land. Parallelen, die sich zu eurem Land auftun, mögen nicht zwingend zufällig sein. Vergleiche überlasse ich aber euch.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Als ich diesen Blog geplant habe, sollte es hier eigentlich nur um Großbritannien als selbsterwähltes Testgebiet des Desaster-Kapitalismus gehen. Die Töne aus London, dass es gar keinen Sinn mehr habe, mit der EU über ein Abkommen zu reden, kombiniert mit der Aussicht auf Millionen neue Arbeitslose in einem sich unmissverständlich ankündigenden, harten Covid-Winter ließen keinen anderen Schluss mehr zu.

Diese Regierung hatte es offenbar darauf abgesehen, ihr Land mit voller Wucht gegen die Wand zu fahren, egal wie viele Menschenleben das kosten mag. Schließlich sagen selbst ihre eigenen Voraussagen im Fall eines No Deal-Szenarios am Ende der Brexit-Übergangsperiode Versorgungsengpässe in der Medizin- und Nahrungsmittelversorgung voraus.

Gleichzeitig steigen die Zahlen der Corona-Infektionen steil an, gestern lagen wir bei 26.688 Neuinfektionen, knapp 7.000 mehr als in der Woche zuvor, mit 191 neu registrierten Todesfällen in den letzten 24 Stunden. Und das bei einem immer noch nicht funktionstüchtigen, privatisierten Test-System, das aus dem administrativen Chaos nicht herausfindet und unter einem chronischen Mangel an Tests leidet.

Schwer zu sagen, wo man da als Korrespondent anfangen und aufhören soll, denn das Problem an dem Clusterfuck, sprich der endlosen Kette von Dingen, die alle früher einmal haarsträubende News oder handfeste Skandale gewesen wären, ist die schiere Unmöglichkeit, all das hier niederzuschreiben, ohne euch vollends zu verwirren oder mit Details zu überfüttern. Das ist wohl auch der Grund, warum die britischen Nachrichten stattdessen immer lieber Voxpops von der Frau und dem Mann auf der Straße bringen. Vermutlich.

Graffito - "The north is not a petri dish"

APA/AFP/Oli SCARFF

Graffiti in Manchester

Die Baroness und ihre Freunde

Es gibt aber schon auch noch Ausnahmen im britischen Journalismus, wie zum Beispiel den furcht- und rastlosen George Monbiot. Zugegeben, manche (täglich sehe ich einen von ihnen im Spiegel) halten den dauerempörten Ton dieses Desasterjournalisten nicht ganz so gut aus, wie schon der Einleitungssatz seiner jüngsten Kolumne nachfühlbar machen mag: „Wenn Sie nicht vor Wut glühen, dann haben Sie noch nicht die Größenordnung davon begriffen, was man uns angetan hat“, mahnte Monbiot da charakteristisch im gestrigen Guardian.

Aber als bisher beste Zusammenfassung der Machenschaften rund um die britische Pandemiebekämpfung kommt man an seinem Text einfach nicht vorbei.

Ich destilliere, der größtmöglichen Einfachheit halber ohne Namen (Dido Harding, John Penrose, Rupert Soames, Matt Hancock, ihr könnt sie in der folgenden Posse selbst beliebig verteilen):

Da gibt es eine Frau, die wurde vom vorvorigen Premierminister, nachdem sie als Chefin einer Internet Service Provider-Firma durch Einsparungen bei der Security eine von Großbritanniens größten Hacking-Attacken mitverschuldet hatte, zur „Baroness“ gemacht.

Als solche sitzt sie bis zu ihrem Lebensende auf der konservativen Seite des House of Lords. Sie ist auch führendes Mitglied des Jockey Club, also eine große Nummer im britischen Pferderenngeschäft. Spender*innen aus jener Branche haben hunderttausende Pfund in die Wahlkampagnen des konservativen Gesundheitsministers investiert – unter anderem da in seinem Wahlkreis ein wichtiger Rennplatz liegt.

Im Gegenzug hat der Gesundheitsminister die Baroness, die zuvor auch Managerin zweier Supermarktketten war, zur obersten Managerin des britischen Covid-Test-Systems ernannt.

Die dazu gehörende, spezielle britische Corona-App, deren Entwicklung sie als Person mit Erfahrung im Internet-Bereich (siehe drei Absätze weiter oben) organisieren hätte sollen, ist mittlerweile aus technischen Gründen gescheitert und wurde nach langer Verzögerung durch die international gängige Apple/Google-App ersetzt.

Allerdings mangelt es wie eingangs erwähnt an Tests und funktionierenden Test-Zentren, nachdem bestehende lokale Test & Trace-Systeme sowohl vom Sammeln als auch von der Einsicht in Corona-Daten ausgeschlossen wurden. Den lukrativen exklusiven Auftrag dazu erhielt stattdessen - gegen einen Betrag von 13 Milliarden Euro - der Outsourcing-Spezialist Serco, eine jener Wunderfirmen, die sich von der Müllabfuhr bis zum Transport von Gefangenen alles zutrauen, was einmal Staat, Provinz oder Gemeinde selbst erledigt haben. Chef dieser Firma ist der Bruder eines ehemaligen konservativen Ministers.

Um das nach Monaten immer noch stockende Testsystem endlich funktionstüchtig zu machen, wurden rund 11 Millionen Euro an ein Consulting-Unternehmen bezahlt, das nun die Outsourcing-Firma berät, die von der Baroness mit dem Job beauftragt wurde.

Denn die Baroness ist mittlerweile auch Chefin des National Institute of Health Protection, der neuen Dachorganisation für öffentliche Gesundheit, geworden. Der befreundete Gesundheitsminister hatte die Vorgängerorganisation Public Health England diesen Sommer mitten in der Pandemie abgeschafft und brauchte prompt eine Chefin für die Nachfolgeorganisation. Da hat er nicht lang suchen müssen.

Im Vorstand des nun also von der Baroness geleiteten neuen Instituts sitzen auch Manager der Supermarktketten, für die sie früher gearbeitet hat. Und die Consulting-Firma McKinsey bekam mehr als 600.000 Euro für die Beratung der Organisation in punkto „Vision, Zweck und Narrativ“ bezahlt.

Keiner dieser Aufträge wurde öffentlich ausgeschrieben, für derlei Feinheiten gibt es in einer Ausnahmesituation wie der derzeit herrschenden schlicht keine Zeit. Aber es gibt ja immerhin einen von der Regierung eingesetzten „Anti-Corruption Champion“.

Der ist ein konservativer Parlamentarier und Berater eines Think Tanks, der in der Vergangenheit für die (nun erfolgte) Abschaffung von Public Health England und die Privatisierung des gesamten staatlichen Gesundheitssystems eingetreten ist. Seine Frau ist übrigens die Baroness. Die beiden lernten einander gegen Anfang ihrer Karrieren im Büro kennen. In ihren früheren Jobs bei McKinsey.

So viel – und es gäbe WESENTLICH mehr – zu den jenseits empörter Guardian-Kolumnen und Twitter-Threads so gut wie nirgends berichteten Hintergründen.

Das Problem an Schlagwörtern wie Desaster-Kapitalismus ist ja nämlich, dass man sich darunter immer einen durchdachten Plan schlauer Strateg*innen vorstellt. In Wahrheit, und das ist beim Brexit wohl nicht anders als bei der Corona-Bekämpfung, steckt dahinter vielmehr bzw. vielweniger auch nur eine dörfliche Seilschaft, in der jeder jeden kennt. Man unterschätzt die weiteren Konsequenzen seines destruktiven Treibens, wenn es doch persönlichen Profit zu machen gibt.
Ein schmuddeliges, kleines Spielchen unter Freund*innen, vereint durch Gier und psychopathische Tendenzen.

Wie britisch ist die Empathie?

Letztere kamen zum Beispiel gestern im Unterhaus wieder wunderbar zur Geltung, als ein vom Fußballer Marcus Rashford unterstützter Antrag debattiert wurde, 1,3 Millionen englische Kinder aus armen Haushalten den Herbst und Winter über weiter mit Gratis-Schul-Essen zu versorgen (Wales und Schottland haben das bereits beschlossen). „Ich glaube nicht an die Verstaatlichung von Kindern“, sagte dazu ein konservativer Abgeordneter namens Brendan Clarke-Smith, „Wir müssen wieder zur Idee der Verantwortung zurückkehren.“

Einmal abgesehen von der Frage, wie viel Verantwortung hungernde Kinder für den Verdienst ihrer Eltern tragen: Was in den Köpfen dieser Leute nie ganz anzukommen scheint, ist die Tatsache, dass eine Pandemie Leute ganz wirklich ganz ohne eigene Verantwortung arm und hungrig machen kann.
Daher wurde der Antrag auch mit satter konservativer Mehrheit abgelehnt.

Aber immerhin hat Marcus Rashford ja heuer einen MBE-Orden gekriegt. Member of the British Empire. So wie die Beatles damals. Vielleicht hat ihn das ja auch zu einem seiner weniger durchdachten Statements verleitet, nämlich, dass Empathie gegenüber Kindern in Armut, „ein Teil davon ist, was es heißt, britisch zu sein.“

Großer Fehler.

Was britisch ist, lässt sich diese Regierung nicht von einem dahergelaufenen Fußballer sagen.

Und überhaupt ist das jetzt gerade so eine Sache mit dem Britischsein. Während der ersten Welle im Frühling hatte die Regierung Johnson noch auf patriotische Einheit gesetzt und so die Coronakrise zu einer Art Charakterprobe für die tapfere Nation stilisiert.

Ich hätte eigentlich erwartet, dass das Fahnenwedeln nun wieder von Neuem losgeht, schließlich würde sich auch im kommenden Brexit-Chaos ein bisschen nationaler Schulterschluss ganz gut machen, gegen das böse Brüssel, dem man demnächst wieder vorwerfen wird, das Königreich spalten zu wollen (die Frage, zu welchem Handelsraum Nordirland gehört, haben gerade wieder alle vergessen, sie kommt aber wieder – Deal oder nicht).

Aber der Buffo-Churchill und die Game Theory-Nerds in der Downing Street haben offenbar beschlossen, dass sich bis dahin noch ein bisschen Demütigung des Feindes im Inneren ausgeht.

In den letzten Wochen wurde in England (Wales, Schottland und Nordirland haben Souveränität über ihre Gesundheitspolitik) nämlich ein Drei-Stufen-System Covid-bedingter Einschränkungen und Vorschriften eingeführt. Nicht in Ampelfarben, sondern Tier 1 (in etwa „Rang“, gesprochen: „ti-er“), Tier 2 und Tier 3, die regional verhängt werden. Das – siehe den zweiten Satz dieser Kolumne – ist eine Gelegenheit zur parteipolitisch motivierten Erpressung, die offenbar keine Regierung ungenützt vorübergehen lassen kann.

Und so wurden erst traditionellen Labour-Hochburgen wie Liverpool, und ab kommenden Freitag auch Manchester und South Yorkshire die scharfen Restriktionen des Tier 3 auferlegt. Keine Pubs, keine Freund*innen treffen, aber Schule schon, also knapp vor dem kompletten Lockdown, auch was die finanziellen Hilfen vom Staat angeht. Die mussten die (großteils von Labour gestellten) Vertreter*innen jener Regionen mit der Regierung eigens ausverhandeln.

Bürgermeister von Greater Manchester - Andy Burnham

APA/AFP/POOL/Martin Rickett

Andy Burnham, Bürgermeister der Region Greater Manchester

Vorgestern scheiterten die Gespräche zwischen Andy Burnham, dem Bürgermeister von Manchester, und der Treasury (Finanzministerium). Burnham hatte für die Region Greater Manchester, in der immerhin 2,7 Millionen Menschen leben, eine dringend nötige finanzielle Rettungsspritze von 90 Millionen Pfund gefordert.

Damit begann ein zynisches Feilschen zwischen London und Manchester, einem Bürgermeister, der sich weigerte, ohne staatliche Hilfe potenziell ruinöse Maßnahmen über seine Bevölkerung zu verhängen und der Regierung, die ihm vorwarf, die öffentliche Gesundheit zu gefährden.

Johnson provozierte den Zusammenbruch der tagelangen Verhandlungen, und als ein völlig ausgelaugter Burnham schließlich an die Medien ging, ließ die Regierung die Regionalverwaltung wissen, dass 60 Millionen Pfund unabgeholt „auf dem Tisch“ lägen.

Ich bin ja nun kein Brite und mag mich da auch nach 24 Jahren nicht ganz so auskennen, aber ich wäre mir nicht sicher, ob ausgerechnet das stolze Manchester diese schäbige Behandlung bis zur nächsten Wahl vergisst.

Gestern dann lief ein ähnliches Spielchen mit dem unter Tier 2 eingestuften London. Tier 2 heißt: Lokale bleiben offen, aber man darf nur mit Mitgliedern des eigenen Haushalts hingehen (es sei denn – Trick! - man nennt es ein „business meeting“, die müssen natürlich erlaubt sein), Treffen mit Freund*innen gibt’s nur im Freien, Sex mit Personen aus einem anderen Haushalt nur, falls jene zur selben „Support Bubble“ gehören, die nur zwischen zwei Ein-Personen-Haushalten oder einem Ein-Personen- und einem Mehr-Personen-Haushalt bestehen darf.

Für die Stadt London heißt das logischerweise auch, dass die vom Ticket-Verkauf abhängige, vom ersten Lockdown immer noch schwer angeschlagene öffentliche Verkehrsbetriebsgesellschaft Transport for London akut von der Pleite bedroht ist und dringend staatliche Hilfe braucht.

Boris Johnson war sich gestern dennoch nicht zu schade, im Unterhaus zu behaupten, der Labour-Bürgermeister Sadiq Khan habe Transport for London schon vor Covid „effektiv in den Bankrott getrieben.“ Khan bezichtigte Johnson daraufhin der Lüge. Und da ist schon was dran, denn in seiner Amtszeit wurde das von seinem Vorgänger (einem gewissen Boris Johnson) geerbte Defizit der Verkehrsbetriebe tatsächlich deutlich verringert.

Und damit komme ich endlich dazu, dass nämlich heute in London doch noch die Verhandlungen mit der EU wieder aufgenommen werden, von denen es noch vor ein paar Tagen geheißen hatte, sie seien beendet.

Mittlerweile sollte klar sein: Diese Regierung kann Korruption, sie kann Medien-Management, sie versteht was davon, andere gegeneinander auszuspielen. Aber sinnvoll verhandeln kann und will sie nicht.

Die Frage ist nur, ob dies nach obigen Kontroversen rund um die regionalen Einschränkungen irgendwann auch eine kritische Masse der medial manipulierte Bevölkerung endlich überzuckert. Verlassen sollte man sich jedenfalls nicht darauf.
Denn reingehen tu schon einiges, das hat die Erfahrung gezeigt.

PS (auch) in eigener Sache:

A propos reingehen, eins hab ich glatt noch vergessen, bevor wir Labour hier zu gut aussehen lassen:

Gestern hatte das House of Lords die letzte Chance, den Commons zwei für die Realität nach dem Brexit für unsereins aber auch die exilbritischen Kolleg*innen nicht unwichtige Gesetzesänderungen zu empfehlen:

1) Dass im UK wohnende EU-Bürger*innen mit Settled Status oder Pre-Settled Status neben ihrem Eintrag auf einer Datenbank auch eine physische Bescheinigung ihres Aufenthaltsrechts bekommen. Nicht unwichtig, wenn man etwa im Ausland mit Dokumenten nachweisen will, dass man seinen Wohnsitz in Großbritannien hat.

2) Dass Brit*innen, die in der EU leben und nach Großbritannien zurückkehren, ihre Familien ohne eigene Aufenthaltsbewilligung in ihr Geburtsland mitnehmen dürfen.

In beiden Punkten hat die Labour-Frakton sich der Stimme enthalten, also wurden die Anträge von den Konservativen (die in den Lords keine absolute Mehrheit haben) erfolgreich abgelehnt.

Schönen Dank auch, Gastland.

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