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Filmstill "Aufzeichnungen aus der Unterwelt"

Stadtkino Filmverleih

Viennale at its best: Ein Sprint durch das dunkle Wien

Ein Einblick in die vergangene Wiener Unterwelt und ein Sprint durch die Straßen Wiens stehen auf dem Programm des ersten Viennale-Wochenendes. Willkommen zum zweiten Teil des Viennale-Tagebuchs!

Von Philipp Emberger

Es ist Samstag, kurz vor 18 Uhr, und ich habe meine Karte für den Film „Isabella“ des argentinischen Regisseurs Matías Piñeiro noch nicht abgeholt. Wild stürze ich aus der Straßenbahn und laufe die Berggasse hinunter. In diesem Moment bin ich froh, dass die Berggasse bergab geht und ich genügend Schwung aufbauen kann. Der wienkundige Viennale-Besucher weiß jetzt wohl, wohin mich mein Weg geführt hat: Ins Le Studio im 9. Bezirk, einem der neuen Viennale-Kinos in diesem Jahr. Zusätzlich zu den fünf bereits bekannten Sälen kommen bei der 58. Ausgabe von Österreichs größtem Filmfestival fünf neue, die sogenannten Circuit-Kinos dazu: Filmcasino, Votiv Kino, Blickle Kino, Admiralkino und eben Le Studio.

Ich schaffe es schließlich rechtzeitig, mein Ticket abzuholen und bin bereit für den ersten Film in einem der Circuit-Kinos. Die ganze Aufregung übrigens deshalb, weil die Viennale-Regeln heuer sehr streng sind, ein verspäteter Einlass ist aufgrund der Bestimmungen nicht möglich. „Isabella“ beginnt dann mit einer theoretischen Abhandlung über die Farbe Lila. Erscheint mir passend, zu diesem Zeitpunkt leuchtet mein Kopf von der Lauferei noch immer in dieser Farbe.

Filmstill "Isabella"

Trapecio Cine / Le Fresnoy

Steine spielen in Matías Piñeiros Film „Isabella“ eine große Rolle.

In Piñeiros farbenprächtigem neuem Werk ist Mariel (María Villar) zu sehen, die gerne die Rolle der Isabella in Shakespeares „Maß für Maß“ spielen will. Für das Vorsprechen hat die schwangere Frau bereits geübt, allerdings plagen sie finanzielle Sorgen. Um diese zu lindern, beschließt sie, ihren Bruder, mit dem sie lange keinen Kontakt mehr hatte, um Geld zu bitten. Das Treffen mit ihm versucht sie „zufällig“ herbeizuführen. Mariel geht vor dem Schwimmbad 15 Minuten lang auf und ab, um ihm „zufällig“ über den Weg zu laufen. Immer wieder rein in das Schwimmbad, und wieder raus. Schließlich trifft sie dort auf dessen Freundin Luciana (Agustina Muñoz), die ebenfalls Schauspielerin ist und mehr Glück zu haben scheint als Mariel.

„Isabella“ ist einer der Filme, die ich ohne Viennale nie sehen würde. In dem Film sieht man ein nicht immer leicht zu durchschauendes Spiel von verschiedenen Ebenen, die ineinander übergehen. Außerdem zeigt Piñeiro das Aufbegehren einer jungen Frau und ziemlich viele Steine.

Von Strolchen und Strawanzern

Ein ebenfalls nicht leicht zu durchschauendes Spiel gibt es dann in einem der Highlights der diesjährigen Viennale zu sehen: „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ der beiden Regisseure Tizza Covi und Rainer Frimmel. In ihrer knapp zweistündigen reduzierten Dokumentation lassen die beiden Strolche und Strawanzer der Wiener Unterwelt aus den 60ern zu Wort kommen.

Filmstill "Auszeichnungen aus der Unterwelt"

Stadtkino Filmverleih

Der Heurigensänger Kurt Girk in „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“

Der Heurigensänger Kurt Girk, der Frank Sinatra aus Ottakring, und der ehemalige Unterwelt-Gangster Alois Schmutzer geben einen Einblick in ein längst vergangenes und teilweise längst vergessenes Wien. In Schwarz-Weiß-Bildern erzählen sie vom Zweiten Weltkrieg und von eingesperrten Soldaten im Erdäpfel-Keller. Das dient als Vorlauf, um zu verstehen, woher die beiden kommen, in welchem Österreich sie sozialisierst worden sind und was sie schließlich ins Gefängnis bringen sollte.

Die meiste Zeit verwendet die Dokumentation darauf, das Bild eines brutalen Nachkriegsösterreichs zu zeichnen. Kurt Girk und Alois Schmutzer erzählen von der Wiener Unterwelt (die es laut Schmutzer nie gegeben hat) und wie sie sich beim illegalen Glücksspiel mit der Wiener Polizei angelegt haben.

Filmstill "Aufzeichnungen aus der Unterwelt"

Stadtkino Filmverleih

Beim illegalen Glücksspiel Stoß haben sich die Wiener Ganoven mit der Polizei angelegt.

Die Regeln des Glücksspiels werden kurz erklärt und sind laut dem Meidlinger Kleinganoven Schmutzer watscheneinfach. Ganz so watscheneinfach finde ich die Regeln des Spiels aber nicht, und auch das gesamte Publikum im Gartenbaukino rätselt mehr, als es verstanden hat.

Nur mein Sitznachbar würde an dieser Stelle Schmutzer wohl zustimmen, kann er aber nicht, er ist eingeschlafen. Zu seiner Verteidigung: Der Herr dürfte wohl die illegalen Glücksspielrunden noch aus erster Hand miterlebt haben. Für mich zeigt sich hier aber auch wieder ein schöner Aspekt der Viennale. Es gibt Filme, die entfalten auf alle Menschen, egal welchen Alters, eine Wirkung, und so ist das Publikum an diesem Tag im Gartenbaukino bunt durchmischt.

Filmstill "Aufzeichnungen aus der Unterwelt"

Stadtkino Filmverleih

Alois Schmutzer erzählt in „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ seine Geschichte.

Betroffenheit macht sich im Publikum breit, als die Erzählung der Dokumentation Ende der 60er-Jahre angelangt. Girk und Schmutzer werden für die angebliche Beteiligung an einem Postraub (oder, wie es in der Unterweltsprache heißt, einer Brieftaube) verhaftet und angeklagt. Beide bestritten ihre Beteiligung und wurden in weiterer Folge überraschenderweise zu extrem hohen Haftstrafen verurteilt. Vor allem im Vergleich zu den Haftstrafen mancher Alt-Nazis wirkt das Urteil aus heutiger Sicht wie ein Justizskandal.

„Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ erhielt bei der diesjährigen Berlinale eine lobende Erwähnung der Jury für Dokumentarfilme und das ist nachvollziehbar. Obwohl so reduziert, so charmant, entfaltet der Film auf das Publikum seine ganze Wirkung. Es wird gelacht über die Formulierungen der Wiener Gangstersprache, nur um in der nächsten Sekunde betroffen zu sein vom Schicksal der Protagonisten. Die Regisseure Tizza Covi und Rainer Frimmel erzeugen auf so unaufdringliche Weise ein Stück Zeitgeschichte und thematisieren ein Nachkriegsösterreich, einen Kampf in der Wiener Unterwelt und einen vergessenen Justizskandal. Das zieht in den Bann, unterhält und schockiert. Nebenbei lernt man als Zuseher*in noch wienerisches Gangstervokabular.

Kino at its best. Viennale at its best.

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