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Gesichtserkennung

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Erich Moechel

COVID-19 bremst boomende Gesichtserkennungbranche

Kein einziges existierendes Biometriesystem kann Maskenträger halbwegs verlässlich erkennen, alle produzieren hohe Fehlerraten. Das wird sich auch nicht ändern, weil die Maske die mithin wichtigsten Messpunkte des Polygonrasters bedeckt.

Von Erich Moechel

Die Coronavirus-Pandemie hat die boomende Gesichtserkennungsbranche kalt erwischt. Alle aktuellen Systeme produzieren bei Maskenträgern Fehlerraten, die sie unbrauchbar machen. Das gilt für Authentifizierungsysteme, etwa von Smartphones oder am Flughafen, ganz besonders aber für Videoüberwachungsysteme mit Gesichtserkennung. Auf absehbare Zeit sind alle bestehenden solchen Überwachungsinstallationen obsolet.

Apple hat mit Verweis auf die erwartbaren Fehlerraten nicht erst versucht, seine Gesichtserkennung zum Entsperren von iPhones auf Maskenträger umzustellen, auch Google hat nachgezogen. Zwei aktuelle große Studien des US-Standardgremiums NIST vom Juli und Oktober zeigen Fehlerraten zwischen fünf und 50 Prozent - bei den Top Ten der technisch besten Erkennungssysteme auf dem Weltmarkt. Marktanalysten zeigen sich ratlos, denn die Pandemiefolgen in die Prognosen einzurechnen, scheint unmöglich zu sein.

Überbllick über den Markt von Gesichtserkennungssoftware

Mordor Intelligence

Diese Grafik des indischen Thinktanks Mordor Intelligence zeigt, wo biometrische Gesichtserkennung boomt, nämlich in China und in Indien. In den aktuellen Prognosen des Unternehmens kommen die Auswirkungen der Pandemie praktisch nicht vor. Die letzte Marktprognose der britischen Juniper Research stammt vom Jänner dieses Jahres, hat also ebenfalls keine Folgenabschätzung zu bieten. Die Marktforscher von I-Scoop haben zwar einen kurzen Abschnitt zu möglichen COVID-Folgen, der Inhalt widerspiegelt allerdings eher ein grundlegendes Unverständniѕ von Technologien wie Iris-Biometrie, als dass er Einsichten in die die wahrscheinliche Marktentwicklung gibt.

In der 2019 geleakten Digitalagenda der EU-Kommission wird als eines der Ziele, „Akzeptanz und Vetrauen in Bezug auf Technologien zur Gesichtserkennung zu stärken“ genannt.

Wachstumsraten von gestern

Während der letzten Jahre hatte der Anteil der Gesichtserkennung unter den biometrischen Methoden rasant zugenommen. Das weltweite Marktvolumen 2020 wird von den Analysten auf etwa vier Milliarden Dollar eingeschätzt. Laut Mordor Intelligence (Indien) sind es 4,4 Millarden im Jahr 2020, Marketsandmarkets (USA) setzt das Volumen mit 3,8 Mrd etwas niedriger an, auch die jährlichen Wachstumsraten werden generell recht einheitlich zwischen 15 und 17 Prozent eingeschätzt, im Schnitt wird davon ausgegangen, dass sich das derzeitige Volumen etwa 2026 verdoppelt haben wird.

So weit stimmen die Prognosen der Thinktanks, die diesen Markt beobachten, weitgehend überein. Alle beschränken sich auch darauf, die bisherigen Annahmen ganz einfach fortzuschreiben. Alle verfügbaren Zahlen zeichnen also das Bild eines noch kleinen, aber rasant wachsenden Markts, sie haben jedoch alle gemein, dass die Coronavirus-Pandemie in diesen Schätzungen nicht eingegerechnet ist. Dazu wäre es nämlich nötig, den weltweiten Verlauf der Pandemie, und vor allem deren Dauer, zumindest grob einzuschätzen, die einen Teil der gesichtsbiometrischen Anwendungen unweigerlich treffen wird.

Frau mit unterschiedlich verhülltem Gesicht

NIST

Die Erkennungsrate bei Masken, die bestimmte Bereiche des Gesichts freilassen wie unten links war zwar etwas höher gegenüber vollabdeckenden Masken (rechts unten). Insgesamt blieben jedoch auch diese Werte weit unter der Schwelle der praktischen Einsetzbarkeit. Die gesamte, umfassende Untersuchung des NIST findet sich hier.

Tests unter Laborbedingungen

Die ausführlichen Tests des National Institute for Standards and Technology (NIST) von 90 Gesichtserkennungssystemen aus allen möglichen Staaten weltweit beziehen sich ausschließlich auf solche zur Authentifizierung. Anders als bei Überwachungssystemen haben die Betroffenen großes Interesse daran, dass sie authentifiziert werden, egal ob es um Zugänge zu Labors und anderen Sperrbereichen oder um Passkontrollen auf Flughäfen geht. Diese Bereiche sind stets richtig ausgeleuchtet, die Abstände der Gesichter zur Kamera sind normiert, es herrschen also fast Laborbedingungen. Die Maske kann für den Authentifizierungsvorgang auch kurz abgenommen werden.

Die großangelegten Studien des NIST stammen von sechs Millionen Fotos, verglichen wurden jeweils die Erkennungsraten des Originalfotos mit einem Duplikat, auf das verschiedene Maskenformen projiziert wurden. Das sind nicht nur Laborbedingungen, sondern solche zum Quadrat, da es jeweils um den Vergleich von zwei ansonsten völlig identischen Fotos geht. Bei automatisierten Passkontrollen wird das Passfoto hingegen mit einer Liveaufnahme des Passinhabers abgeglichen, der in eine Kameralinse blickt, dasselbe gilt auch für jedes andere so gesicherte Zutrittssystem. Real sollten also die Fehlerraten etwas höher sein.

Abgleich 1:1 funktioniert anders als 1:n

Vom NIST wurde 1:1 abgeglichen, also überprüft, ob zwei Aufnahmen dieselbe Person zeigen. Bei Bildern aus Überwachungskameras ist das Matching-Verhältnis hingegen 1:n, ein Gesichtsbild wird da mit einer ganzen Bilddatenbank abgeglichen. Je mehr Einträge darin enthalten sind, desto höher steigen generell die „False Positives“, also falsche Treffer, die dann durch menschliche Evaluation ausgeschlossen werden müssen. Diese Art der Identifizierung funktioniert bei Maskenträgern wenig überraschend nicht.

maskierte Person

Radio FM4

Die vom NIST getestenen Masken waren entweder hellblau oder schwarz, Muster oder Bilder wie auf desem Bandana dürften noch für zusätzliche Verwirrung der Systeme sorgen.

Vor allem Systeme im öffentlichen Raum - also Videoüberwachung mit nachfolgendem gesichtsbiometrischem Abgleich - werden davon weit stärker in Mitleidenschaft gezogen werden, denn die werden ja in Hotspots mit hoher Personenfrequenz installiert. Das sind genau jene Orte, an denen wenigstens in den nächsten Jahren ein großer Anteil der Passanten Masken tragen wird. Die Wiener Polizei hatte Mitte September erstmals ein Gesichtserkennungssytem eingesetzt, um Teilnehmer an einer Demonstrationen auf den Videos zu identifizieren. Niemand von den Genannten hat irgendein Interesse daran, auf solchen Videos besonders fotogen daherzukommen.

Die Konsequenzen zeichen sich ab

2018 hatte Facebook ein Patent auf „Augen-Tracking“ angemeldet, das sensible „implizite“ Verhaltensdaten erfasst, die Einstellungen und mentale Dispositionen der Benutzer verraten.

Ende Oktober berichteten japanische Medien wie etwa „Kyodo News“, dass der Elektronіk-Konzern NEC sein umfassendes Überwachungskonzept für die auf 2021 verschobenen Olympischen Sommerspiele geändert habe. Ursprünglich war ein Eintrittssystem samt umfassendem Tracking per Gesichtsbiometrie in allen Stadien vorgesehen, um die Bewegungen von Personen nachvollziehen zu können. Ende Oktober gab der Konzern ein den Umständen geschuldetes, verändertes Set-Up bekannt. Gesichtserkennungsysteme sollen nicht mehr zum Erkennen von Gesichtern eingesetzt werden, sondern zur Überprüfung, ob eine Person auch eine Maske trägt. Die Kameras sollen zusätzlich Temperatursensoren erhalten, um fiebernde Personen auf den Rängen identifizieren zu können.

Infografik zum Verbot der Gesichtsverhüllung

APA

Erinnert sich noch wer an diese Grafik? Sie stammt aus dem Umfeld des gesetzlichen Verhüllungsverbots im öffentlichen Raum der verblichenen türkisblauen Regierung von 2017. Was vorher dezidiert erlaubt war, ist heute verboten, was „unter Umständen erlaubt war“, ist heute Pflicht.

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