FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Autorin Brit Bennett

Radio FM4

Autorin Brit Bennett über Black Lives Matter und den American Dream

Mit ihrem zweiten Roman „Die Verschwindende Hälfte“ hat die US-amerikanische Autorin Brit Bennett erneut einen New York Times Bestseller gelandet. Im FM4 Interview spricht sie über ihr Buch, was die Black Lives Matter Proteste in den USA verändert haben und ob der American Dream noch erfüllbar ist.

von Melissa Erhardt

Es ist 1968. Martin Luther King ist gerade am Balkon eines Motels in Memphis, Tennessee erschossen worden, als es zu Krawallen und Aufständen im ganzen Land kommt. Tausende Menschen werden verletzt, viele sterben. Mitten in diesen bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die der aktuellen Situation in den USA erschreckend nahe kommen, kehrt in einer öden Kleinstadt mitten in Louisiana die lang verloren geglaubte Desiree Vignes in ihre Heimat zurück – ihre Zwillingsschwester Stella aber fehlt.

Brit Bennet’s neuer Roman „Die verschwindende Hälfte“ handelt von den hellhäutigen, afro-amerikanischen Zwillingsschwestern Stella und Desiree, die zwar am Papier Schwarz, in Wahrheit aber so lightskinned sind, dass sie als weiß durchgehen könnten. Die beiden wachsen in der Kleinstadt Mallard im ländlichen Louisiana auf. Gegründet wurde die Stadt 1848 von dem ehemaligen Sklaven und Urururgroßvater der Zwillinge, Alphonse Decuirs. Der hatte die Zuckerrohrfelder seines weißen Vaters geerbt und wollte eine Stadt bauen für Menschen wie ihn, „die nie als Weiße akzeptiert werden würden und sich trotzdem nicht wie Negroes behandeln lassen wollten“.

„Soziale“ Hautfarbe

Die beiden Schwestern müssen als Kinder mit ansehen, wie ihr Vater von weißen Männern gelyncht wird, als Jugendliche werden sie dazu verdonnert, das Haus der reichen, weißen Dumonts zu putzen und immer wieder trichtert man ihnen ein, dass ihre helle Haut ein Privileg ist. Irgendwann hauen die beiden ab nach New Orleans, wo Stella auf einem Bewerbungsbogen statt „farbig“ „weiß“ ankreuzt – ihr Arbeitgeber glaubt ihr und stellt sie ein.

Von einen Tag auf den anderen nimmt das Leben beider Schwestern eine 180-Grad-Wendung. Stella wird weiß und lässt ihr bisheriges Leben hinter sich. Nicht einmal von ihrer Schwester Desiree verabschiedet sie sich, als sie sich davon macht in ihr neues, weißes Leben. Desiree, geschockt und gebrochen vom plötzlichen Verschwinden ihrer Schwester, verliebt sich bald darauf in „den dunkelsten Mann, den sie finden konnte“ und zieht zurück nach Mallard. Fortan entscheidet die „soziale“ Hautfarbe über das Leben der beiden Schwestern. Wir haben die Autorin zum virtuellen Interview getroffen.

Buchcover

Rowohlt Verlag

„Die verschwindende Hälfte“ ist im September 2020 im Rowohlt Verlag erschienen.

FM4: Wie geht es dir? Wie ist die Stimmung in den USA?

Brit Bennett: Verrückt und gestresst. Aber es geht mir gut, den Umständen entsprechend. Ich bin in New York neulich bei einer Early-Voting-Stelle vorbeigefahren und die Schlange war meterlang. Ich hoffe einfach, dass viele Bürger*innen rausgehen, um zu wählen und wir eine neue Regierung bekommen. Ich versuche mir nicht vorzustellen, auf welche dunkle Zeit wir zusteuern könnten, sondern versuche, optimistisch zu bleiben.

Du hast dich schon öfters offen zum Rassismus in den USA geäußert, z.B. in deinem 2014 erschienenen Essay „I don’t know what to do with good white People“. Was hat sich in den USA seit den Black Lives Matter-Protesten im Frühjahr getan?

Brit Bennett: Es ist ein größeres Bewusstsein für diese Themen geschaffen worden, aber ich weiß nicht, ob sich langfristig etwas geändert hat. Es fühlt sich jetzt schon wieder ganz anders an als noch im Juni. Da gab es einen zwingenden Druck den rassistischen Schaden, der angerichtet worden ist, zu analysieren und anzuerkennen. Aber die Zeit vergeht und weiße Menschen verlieren das Interesse.

Aber, wie gesagt, es gibt ein größeres Bewusstsein. Trump versucht immer wieder, diesen rassistischen Hass zu schüren, aber es funktioniert nicht so wie er sich das vorgestellt hat. Er versucht, den weißen Menschen Angst zu machen, zu sagen: Die Städte brennen, es wird unsicher. Aber je mehr er das macht, desto mehr verschreckt er die Wähler*innen. Die Mainstream Position der Amerikaner*innen hat sich in Richtung Black Lives Matter bewegt, auch wenn es nicht substantiell oder dauerhaft ist. Aber wenn jetzt eine*r sagt: All Lives Matter, dann erkennen die Menschen: Oh, das ist eigentlich ein Ablenkungsmanöver. Das hätten die meisten vor drei oder vier Jahren nicht erkannt.

In deinem Essay schreibst du, wie deine Mutter dir erzählt: „Im ländlichen Süden war es um einiges leichter. Weiße Menschen lassen dich einfach sofort wissen, wo du stehst.“ Und auch du hast gesagt, es ist leichter, jemanden vor dir zu haben, bei dem du weißt, es ist ein rassistischer Troll, als eine weiße Person, deren Absichten du nicht einschätzen kannst. Hat sich das geändert?

Brit Bennett: Das ist schwer zu sagen. Es erfordert einfach viel psychische Arbeit, darüber nachzudenken, ob es jemand gut oder schlecht mit dir meint. Aber so geht es mir auch als Frau, wenn ich mit Männern interagiere. Es sind dieselben Fragen, die ich mir stellen muss. Heute gehört da mehr psychische Arbeit dazu als damals bei meiner Mutter, die im ländlichen Louisiana aufgewachsen ist und in eine segregierte Schule gegangen ist. Sie wusste, was weiße Menschen von ihr halten. Jetzt ist es schwerer. Wenn ich aber zum Beispiel eine Person wie Donald Trump vor mir hab, weiß ich sofort: Ich möchte nicht allein mit ihm in einem Raum sein.

„Ich möchte mit Donald Trump nicht allein in einem Raum sein.“

Was haben die Black Lives Matter Proteste für dich geändert?

Brit Bennett: Ich denke sie haben verändert, wie wir artikulieren, was passiert. Es hat unsere Kommunikation verändert, es ist unsere Verantwortung zu dokumentieren, was passiert. Wenn ich jetzt herumgehe und Polizist*innen auf der Straße sehe, die mit jemanden reden, dann werde ich langsamer und sorge dafür, dass jemand dort ist und beobachtet, was passiert. Aber auch diese breiteren Konversationen, z.B. über Defunding the Police, das ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich dachte immer, gut, wir brauchen eine Polizei-Reform. Dass wir jetzt aber darüber reden, was wäre, wenn wir die Polizei einfach abschaffen – das ist ein großer Schritt, auch wenn die Mehrheit der Amerikaner*innen diese Position sicher nicht vertritt.

Autorin Brit Bennett

Emma Trim

Brit Bennett

Dein neuer Roman ‚Die verschwindende Hälfte‘ spielt in Mallard, einer Kleinstadt im ländlichen Louisiana, die 1848 von einem freien Sklaven gegründet worden ist. Sein Plan war es, eine Stadt für Menschen wie ihn zu schaffen, „die nie als Weiße akzeptiert werden würden und sich trotzdem nicht wie Negroes behandeln lassen wollten. Einen dritten Ort“. Gibt es Mallard wirklich? Und wie bist du darauf gekommen?

Brit Bennett: Der Auslöser war eine Konversation mit meiner Mutter, die in ihrer Kindheit viel von einer Stadt gehört hat, die besessen war von Hautfarben. Ich war sofort fasziniert aber auch verstört beim Gedanken daran, in so einer Stadt zu wohnen. Solche Städte gibt es also wirklich, aber die Geschichte und der Ort im Buch sind fiktiv.

Ich habe viel über solche Städte mit kreolischen Communities in Louisiana gelesen. Louisiana hat, in Bezug auf seine ethnische Vergangenheit, eine andere Geschichte als der Rest der USA. Es gab viele freie People of Colour, die diese Art von dritten Orten (Third Racial Space) bewohnt haben, während der Rest der USA sehr binär in schwarz und weiß geteilt war. Andere Details aus dem Buch kommen von Geschichten meiner Mutter, die zu Zeiten der Segregation in Louisiana aufgewachsen ist.

„Die verschwindende Hälfte“ ist auch eine Story über das „Passing“, also die Fähigkeit, als das gelesen zu werden, womit man sich identifiziert. Meist kennt man das aus dem Gender-Bereich, über Hautfarben spricht man da nicht so oft. Was steckt da dahinter?

Brit Bennett: Ich fand den Gedanken interessant, was es bedeutet, eine neue Person zu werden und was dafür notwendig ist. Es gibt so viele verschiedene Arten zu „passen“. Auch The Great Gatsby ist eine Story des „Passings“, eine Geschichte der Neuerfindung. Das ist zwar etwas universell Verankertes, aber es ist irgendwie auch diese amerikanische Mythologie zu sagen „Du kannst sein, wer immer du sein willst“. Die Story des „Passing“ ist einfach nur das – auf die Spitze getrieben. Das spricht eine Menge Mythen darüber an, was es bedeutet, amerikanisch zu sein. Transformation kann befreiend aber auch schmerzvoll sein.

Was wäre anders, wenn die Geschichte nicht in den 1960ern spielt, sondern in der heutigen Zeit?

Brit Bennett: Das ist eine gute Frage. Ich wollte als Millenial-Schriftstellerin über diese Zeit schreiben und schauen, was das mit mir macht. Ich wollte mich diesen binären Strukturen widersetzen, wo es heißt, es gibt eine farbige Quelle und eine weiße Quelle und du musst dich für eine von beiden entscheiden. Was passiert aber, wenn man sich dem widersetzt, egal ob das jetzt Race, Gender, Klasse oder etwas anderes ist?

Heute denkt man fluider über Identitäten nach, wir würdigen das als Gesellschaft oder kommen dem zumindest näher und lernen die Sprache, um das zu verstehen. Das wäre also bestimmt anders. Heute ist es aber auch schwerer, einfach zu verschwinden. Wir leben vor allem online so öffentlich und es gibt so viel Daten von uns - das würde es schwerer machen, einfach abzuhauen. Aber vielleicht auch verlockender.

In deinem Buch geht es auch um den American Dream, vor allem wenn man die zwei Charaktere Jude und Kennedy vergleicht. Kennedy, die Tochter von Stella, kommt von einem privilegierten Background, sie kann machen was sie will, kann als schlechte Schauspielerin in L.A. überleben, weil ihre Eltern ihr sowieso alles zahlen und sie kann zur Selbstfindung nach Europa reisen. Jude, Desiree’s Tochter, ist Schwarz und muss hart arbeiten. Sie hat keine freien Wochenenden und schafft es nur dank eines Stipendiums aufs College. Am Ende „schafft“ sie es aber. Denkst du, ist der American Dream noch zu erreichen oder bleibt es bei einem schläfrigen Traum?

Brit Bennett: Zu einem gewissen Ausmaß würde ich sagen, ja. Meine Eltern sind beide arm aufgewachsen, mein Dad kommt aus armen Verhältnissen in South Central L.A., er hat also die städtische Armut erlebt, meine Mum kommt aus dem ländlichen Louisiana und hat damit die ländliche Armut am eigenen Leib miterlebt. Beide waren die ersten ihrer Familie, die ans College gegangen sind. Sie haben hart gearbeitet und mussten sich am eigenen Schopf ziehen, aber meine Schwestern und ich hatten somit einen leichteren Start. Meine eigene Familiengeschichte bestätigt das also.

Aber auf der anderen Seite ist es wahnsinnig schwer. Es bedeutet eine gewaltige Anstrengung, es bedeutet, die richtigen Pausen zu erwischen und Dinge zu bekommen, über die du gar nicht entscheiden kannst. Nur weil du intelligent bist und hart arbeitest, heißt das nicht, dass du es schaffst. Meine Eltern sind wahrscheinlich eher eine Ausnahme, weniger die Regel. Menschen, die es schaffen, müssen gegen so viel ankämpfen und bekommen riesige Steine in den Weg gelegt, während Personen wie Kennedy mit einem silbernen Löffel im Mund geboren werden und machen können, was sie wollen. Das ist die üblichere Geschichte in den USA. Es gibt Potenzial, aber es ist so selten, dass es keine Realität ist für die Meisten.

Du bist, zusammen mit AOC, Megan Thee Stallion oder Megan Fox, als eine der 13 Frauen im Jahr 2020 aufgelistet worden, die die Regeln gebrochen haben und viele Kritiker vergleichen dich bereits mit literarischen Größen wie Toni Morrison oder James Baldwin. Wie fühlt sich das alles an?

Brit Bennett: Es fühlt sich komplett surreal an. Ich habe keine Worte dafür. Du schreibst ein Buch und hoffst einfach, dass es jemanden gefällt. Vor allem als ich realisiert habe, dass mein Buch inmitten einer Pandemie rauskommt, habe ich einfach gehofft, dass es irgendjemand irgendwo liest. Ich wusste nicht ob die Bücherläden offen sein würden, ich hatte keine Ahnung, was dieses Jahr bringen würde.

Und es war ein schreckliches und stressiges Jahr, es war so angsteinflößend auf so viele verschiedene Arten und Weisen, dass ich einfach so glücklich bin, dass mein Buch auf so viel positive Kritik gestoßen ist. Es war auch so surreal, dass ich auf Social Media auf Fotos des Buches in so vielen Ländern markiert wurde. Allein zu sehen, dass mein Buch die Welt sieht, während ich hier in meinem Wohnzimmer sitze, war wunderschön. Ich bin also dankbar, aber wenn ich mich hinsetze um zu schreiben, weiß ich, dass das alles keine Rolle spielt. Die Frage, die mich dann beschäftigt ist einfach „Werde ich jetzt etwas Gutes schreiben?“.

Was hast du jetzt vor? Schreibst du schon an etwas Neuem?

Brit Bennett: Ich arbeite bereits am nächsten Buch, das habe ich schon vor ein paar Jahren angefangen, also war es auch eine gute Ablenkung während des Lockdowns. Es geht darin um Musik. Ich bin zwar nicht musikalisch begabt aber ich liebe Musik. Außerdem macht es Spaß, an Konzerte und andere Events einer vergangenen Ära zu denken. (lacht)

Vielen Dank für das Interview!

mehr Buch:

Aktuell: