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Latinx Familie

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Warum es keine Überraschung ist, dass Latinx Trump wählen

Politische Streitigkeiten in der Familie sind nichts Neues. Aber es fühlt sich anders an, wenn es sich um die eigene Familie und den wohl größten Populisten weltweit handelt. Teile meiner Familie haben Trump gewählt. Warum ich sie deswegen nicht shamen möchte und warum Biden und Harris noch einiges an Arbeit erwartet.

Von Melissa Erhardt

„Tonight is the night you might all dicover once again that Latinos are not a monolithic block you can pander to every four years.”

Latinx
(sprich: La-tí-nex) ist eine Selbstbezeichnung von Menschen lateinamerikanischer Herkunft. Der Begriff hat sich als inklusive und geschlechtergerechte Alternative für Latino/Latina im englischsprachigen Raum entwickelt. (NdM-Glossar)

Dieser Tweet der Puerto-Ricanischen Journalistin Frances Solá Santiago sagt eigentlich alles aus, was wir zum Wahlverhalten der Latinx-Community in den USA wissen müssen. Ich weiß, USA, Wahlen, uff. Auch wenn es große inhaltliche Differenzen zwischen den liberalen Linken der Mitte und den progressiven Bernie-AOC-Linken gibt, ist wohl der Großteil der Amis und Nicht-Amis trotzdem erleichtert, einen offen misogynen, chauvinistisch-rassistischen Präsidenten endlich aus dem Amt gejagt zu haben. Wo lässt uns das jetzt aber zurück? Ich bin nach dem ganzen Wahl-Spuk in den USA (der wohl noch nicht ganz zu Ende ist) vor allem eins: verwirrt.

Eine klassische Migrationsgeschichte?

Ungefähr die Hälfte meiner Verwandten mütterlicherseits wohnt in den USA, vier Geschwister meiner Mutter, die sich in jungen Jahren mit der Hoffnung auf ein besseres Leben aus Peru in die USA aufgemacht haben. Das wäre zumindest die gängige Erzählung. In Wahrheit hatten die Geschwister meiner Mutter bereits ein gutes Leben - und viele auch gute Jobs - in Peru. Sie verließen ihr Land vor allem aufgrund individueller Probleme: Mein Onkel wollte zu seiner Frau, meine Tante wiederum wollte weg von ihrem Mann, meine andere Tante war noch ein Teenager und unglücklich verliebt, und mein ältester Onkel – ja, der wollte wirklich ein besseres Leben.

In den USA warteten aber keine „besseren“ Jobs, es warteten die systemerhaltenden Jobs. Ein Onkel wurde Busfahrer, eine Tante Putzfrau, die andere Tante Pflegehelferin und der zweite Onkel fing an, in einem Catering-Unternehmen zu arbeiten. Meine Verwandten sind die Leute, die während der Corona-Pandemie nicht zuhause im Home Office arbeiten konnten, sondern weiterhin zur Arbeit raus müssen. Sie müssen sich frei nehmen, wenn sie um ihre Gesundheit fürchten. Es sind die Leute, die die Jobs machen, die hier bei uns meistens auch Migranten und Migrantinnen erledigen. Und es sind die Leute, gegen die ein Donald Trump sehr oft und sehr deutlich gehetzt hat und die er allgemein als „Drogendealer, Kriminelle und Vergewaltiger“ abgestempelt hat. Es lässt mich also nicht kalt, was in den USA passiert, ganz im Gegenteil.

Familie

Melissa Erhardt

Meine Mutter und ihre Familie in den 80ern

Umso mehr hat es mich erstaunt, als ich vor kurzem auf Facebook ein Posting meiner Cousine aus Florida gelesen habe: „Did my part today to keep Florida in the Red. I’m not a fan of the man but a fan of his plan, plain and simple. Media hasn’t brainwashed me thankfully.” Ich konnte nicht anders und schrieb ihr eine kurze Nachricht. „Prima, did you really vote for Trump?“ Darauf kam nur zurück: „It’s sad but he’s a better president then Biden. Our economy has gone up so much because of Trump“. Ich rief natürlich sofort meine Mutter an, die nur den Kopf schüttelte. „Deine Tante ist schon lange Trump-Supporterin. Deine Cousine jetzt anscheinend auch.“

Wer sind „die Latinx“?

Ich fing an, mir Gedanken zu machen. Dass alle Latinx Biden wählen, nur weil sie Braun sind, war leider eine reine Wunschvorstellung meinerseits. Als bei den aktuellen Wahlen klar wurde, dass Trump Florida vor allem dank der zahlreichen Unterstützung von Latinx-Voter gewonnen hat, folgte ein mediales Entsetzen. „Wie können Latinx nur Trump wählen?“, hallte es von überall. Schnell wurden für Florida Erklärungen gefunden: Dort würden viele Exil-Kubaner*innen und Venezolaner*innen leben, die aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in sozialistischen Systemen und ihrer Flucht aus ebensolcher sehr anfällig seien für Trumps Anti-Sozialismus Geplänkel. Ein weiterer Grund wurde in Latino-Männer gefunden, die den Machismo von Trump bewundern würden und sich durch sein chauvinistisches Auftreten in ihrer eigenen Rolle als patriarchalisches Familienoberhaupt bestätigt sähen.

Es gibt viele Gründe, warum Latinx Voter Trump wählen - und das nicht nur in Florida. Latinos und Latinas machen ca. ein Fünftel der amerikanischen Bevölkerung aus, rund 30 Millionen waren bei der Wahl am 3. November wahlberechtigt. Es gibt Working Class Latinx, Middle Class Latinx und Upper Class Latinx. Latinx sind progressiv und demokratisch, aber auch konservativ und republikanisch. 2004 haben ganze vierzig Prozent der Latinx in den USA für Bush und gegen Kerry gestimmt. 2020 hat Trump ein Drittel der Latinx-Voter gecatcht, in Florida 47 Prozent (im Vergleich: 2016 waren es noch 35 Prozent).

Der Preis des US-Imperialismus

Auch der Großteil meiner Familie, sogar die strengen Demokrat*innen unter ihnen, hat eher rigide Ansichten, was Abtreibung, Same-Sex-Marriage oder progressive Politik im Allgemeinen angeht. Viele Latinx sind, wie meine Familie, sehr gläubig. Traditionell katholisch, sinkt dieser Anteil aber nach und nach, die Evangelikalen gewinnen immer mehr an Einfluss, auch bei den Latinx. Und wie wir wissen, hat Trump die Evangelikalen fest im Griff. Latinx, die in die USA immigriert sind, haben außerdem oft schlechte Erfahrungen mit „dem Sozialismus“ gemacht – und diese Erfahrungen enden nicht bei Venezuela und Kuba.

Auch meine Familie hat in den 1980er Jahren den Sendero Luminoso (den „Leuchtenden Pfad“) miterlebt, eine aus Studentenbewegungen entstandene maoistische Guerillaorganisation, die für den Tod von fast 70.000 Peruaner*innen verantwortlich war. Es war eine Terrororganisation, die unter den Vorzeichen einer „Befreiung von links“ Krieg gegen die Ärmsten in den Anden geführt hatte. Oft ruft allein das Wort „links“ oder „Sozialismus“ in ihnen eine Re-Traumatisierung hervor, die nicht so einfach zu überwinden ist. Schuld daran ist aber nicht „der Sozialismus“ oder „die Linke“, den diese Begriffe wurden nur als Vorwand benutzt. Vielmehr handelt es sich um eine Entwicklung, deren Hauptschuld den militärpolitischen Interventionen der USA im lateinamerikanischen Raum zuzuschreiben ist, die schon auf die Monroe Doktrin aus dem Jahr 1823 zurückgeht, praktisch dem „Wahrzeichen“ des US-Imperialismus, das verdeutlichen wollte: Europa hat in Lateinamerika nichts mehr zu sagen, darum kümmert sich fortan die USA. Und es war die USA, die den Sozialismus in den USA zum Schreckgespenst erklärt hat.

Ein Riesen-Latinx-Swing-State

Aber zurück zu meiner Trump-wählenden-Cousine in Florida.
Anzunehmen, dass sie und andere Latinx demokratisch wählen würden, „nur weil sie Latinx sind“, ist falsch. 55 Prozent der Latinx in den USA fühlen sich von der Politik in Washington D.C. ignoriert, 59 Prozent sind keiner eindeutigen Partei zuzuschreiben und schwanken von Wahl zu Wahl hin und her. Diese 59 Prozent an unentschlossenen Latinx-Wähler*innen sind damit gewissermaßen ein „Riesen-Latinx-Swing-State“. Das geht aus dem National Latino Electorate Survey 2019 hervor.

Aus derselben Umfrage geht auch heraus, dass die Latinx-Community Job- und Wirtschaftsfragen über Identitätsfragen stellt. Wie kann ich es meiner Cousine also verübeln, wenn sie mir sagt, es geht ihr wirtschaftlich besser mit Trump als zuvor? Oder wenn meine Tante sagt, sie hat jeden Tag, seit sie in die USA gekommen ist, hart gearbeitet, und Trump kümmere sich nun mal um hart arbeitende und gläubige Amerikaner*innen wie sie? Natürlich macht es mich traurig und wütend, dass sie Trump wählen. Und wenn ich könnte, würde ich stundenlang mit ihnen diskutieren und versuchen, sie umzustimmen. Aber während sich die Demokraten darauf verlassen haben, dass die Latinx Community sie wählen würden, weil sie eben Latinx sind, war es eben Trump, der versucht hat, sie zu überzeugen. Ob mit Fake-News, oder ideologischen Argumenten.

Biden und Harris werden sich also künftig etwas mehr anstrengen müssen, um die Latinx Community zu erreichen. Und meine Familie wird sich hoffentlich von diesem politischen Hick-Hack nicht zerreißen lassen. Denn natürlich haben nicht alle dieselbe Meinung, und bekennende Trump-Anhänger*innen haben wir, trotz allem und Gott sei Dank, nur zwei. Trotzdem werde ich mich künftig, wenn ich meine Infos aus den USA beziehe, nicht mehr nur an meine Cousine halten, sondern z.B. auch an meinen Cousin. Der sieht die Situation nämlich genau mit dem kritischen Auge, das mir bei vielen anderen Familienmitgliedern (auch den Demokrat*innen) fehlt: „Ich werde nicht ruhig sein, bevor Biden im Weißen Haus ist. Bis Jänner ist noch so viel Zeit, es könnte alles passieren.“

FM4 Auf Laut: Die US-Wahl und die Folgen

Joe Biden hat gewonnen, aber vier Jahre Donald Trump haben die Welt verändert. Die USA sind polarisiert wie nie zuvor, und die internationale Politik wird bestimmt von Konfrontation statt Zusammenarbeit. Weiter aufgeheizt wird die Stimmung durch Betrugsvorwürfe, Klagen und das lange Warten auf ein offizielles Ergebnis der US-Wahl.

Welche Auswirkungen hat diese Wahl auf die Demokratie in den USA? Wie wird das Ergebnis soziale Bewegungen wie Black Lives Matter beeinflussen? Und wie wirkt sich die US-Wahl auf dich und deine Freund*innen oder Verwandte in Amerika aus?

Diese Fragen diskutieren wir am Dienstag, 10.11. 2020 ab 21:00 in FM4 Auf Laut. Die Nummer ins Studio: 0800 226 996

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