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Szene aus der Serie "The Queen's Gambit"

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Beth Harmon aus „The Queen’s Gambit“ ist die Heldin, die wir brauchen

Aus vielen Gründen ist das Schachspielerinnen-Drama „The Queen’s Gambit“ die perfekte Lockdown-Serie. Ein wesentlicher ist ihre Heldin Beth Harmon, die ihr ihren Glanz verleiht. Eine starke und unkonventionelle Frauenfigur, an der sich Autor*innen in Zukunft gerne ein Vorbild nehmen können.

Von Jan Hestmann

Was macht eine Serie ideal für die Zeit des zweiten Lockdowns? Für mich persönlich ist das zum Beispiel eine Serie, die möglichst wenig mit der eigenen Lebensrealität zu tun hat. Zum Beispiel eine Serie, die die Welt der professionellen Schachspieler*innen zum Mittelpunkt wählt. Anders gesagt: eine mir völlig unbekannte Welt. Wenn die dann noch in einem Jahrzehnt fern abseits unserer Gegenwart angesiedelt ist, sagen wir mal, etwa den 1950er Jahren, ist das schon mal eine gute Basis.

Das ist der Rahmen der siebenteiligen Miniserie Serie „The Queen’s Gambit“ (deutsch: „Das Damengambit“), die auf dem gleichnamigen Roman von Walter Tevis aus dem Jahr 1983 basiert. Sie erzählt die Geschichte von Elisabeth Harmon, einer jungen Frau, die im Waisenhaus aufwächst, dort erstmals mit dem Schachspiel konfrontiert wird, und sich schnell als außergewöhnliches Talent entpuppt. Wie kommt es aber jetzt, dass ausgerechnet eine Serie über’s Schachspielen (zugegeben very special Interest) im Moment so empfehlenswert ist?

Zum einen ist es eben das ungewöhnliche Setting, maximal abgekoppelt vom schnöden Alltag, das einem ermöglicht, innerhalb dieser sieben knapp einstündigen Episoden in fremde Welt der Schachturniere abzudriften, in der sich alles um ein kariertes Brett und die darauf stehenden Figuren dreht. Zum anderen, und das ist die größte Stärke der Serie, haben wir es mit Beth Harmon mit einer durch und durch unkonventionellen und extrem erfrischend geschriebenen Frauenfigur, großartig gespielt von Anya Taylor-Joy („The Witch“, „Emma“), zu tun.

Szene aus der Serie "The Queen's Gambit"

Netflix

Beth und ihre Waisenhaus-Kumpanin Jolene

Vom Waisenkind zur Profispielerin

Elisabeth „Beth“ Harmon wächst in einem Waisenhaus in Kentucky auf, nachdem ihre psychisch labile, alleinerziehende Mutter stirbt. Wir haben die 1950er Jahre und zunächst ist es noch Gang und Gebe, die Kinder des Waisenhauses mit regelmäßigen Dosen von Beruhigungsmitteln still zu halten. Die stille Beth wird schon bald abhängig von den kleinen grünen Pillen. Gleichzeitig macht sie im Keller des Waisenhauses Bekanntschaft mit dem Hausmeister Mr. Shaibel (Bill Camp), der ihr das Schachspiel beibringt. In kürzester Zeit entwickelt Beth eine Obsession für das Spiel und erweist sich als ungewöhnliches Talent. Später darf sie einmal einer High School einen Besuch abstatten, wo sie alle Mitglieder des dortigen Schachclubs (ausschließlich Jungen, denn das Schachspiel ist eine strikte Männerdomäne) reihum an die Wand spielt.

Beth wird älter und schließlich von einem Ehepaar, den Wheatleys, adoptiert. Ihr Leben ändert sich schlagartig. Plötzlich wohnt sie in einem eleganten Vorort und hat sogar ihr eigenes Zimmer. Aber auch bei den Wheatleys ist nicht alles eitle Wonne. Der Vater haut eines Tages ab und Mrs. Wheatley (Marielle Heller) ertränkt ihren Kummer in Alkohol. Das aber ist der Beginn einer wundervollen Freund- und Kameradschaft zwischen Beth und ihrer Adoptivmutter. Ein Schachmagazin in der örtlichen Drogerie lässt Beth auf die Welt der Schachturniere aufmerksam werden. Gemeinsam mit Mrs. Wheatley - künftig auch ihre Managerin - tingelt sie von einem Turnier zum nächsten, mit dem Ziel, die Preisgelder einzusacken.

Szene aus der Serie "The Queen's Gambit"

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Ein unschlagbares Duo: Beth Harmon und ihre Adoptivmutter Alma Wheathley

Unabhängige Heldin in einer Männerwelt

Die Figur Beth Harmon macht „The Queen’s Gambit“ so sehenswert. Sie ist nicht nur eine geniale Schachspielerin, sie säuft auch gern und nimmt immer noch die Pillen - Eskalationen sind vorprogrammiert, Genie und Wahnsinn in ihr vereint. Aber trotz aller Ausschweifungen schafft Beth es immer wieder, sich aufzurappeln. Immer wieder muss sie zwischenmenschliche Beziehungen kappen und steht dann allein und einsam da.

Doch Beth kann das Einsamsein auch genießen, eine Fähigkeit, die Frauenrollen leider gar nicht so oft zugeschrieben wird. In ihren Beziehungen, vor allem zu den Männern, ist sie nur scheinbar die Schwache, die, die gerettet werden muss. Am Ende erweist sie sich stets als die Stärkere, sexuell und emotional unabhängig von ihren Liebschaften. Halt gibt ihr das Schachspiel (das ihr aufgrund der dicken Preisgelder auch zunehmend finanzielle Unabhängigkeit beschert). Und die Freundschaften, die sie im Lauf ihrer Reise macht und behält.

„The one thing we know about Elisabeth Harmon is that she loves to win.“

Erfrischend sind ihre Beziehungen zu anderen Frauen, wie zum Beispiel die zu ihrer Adoptivmutter, oder auch die zu ihrer Waisenhaus-Kumpanin Jolene (Moses Ingram). Es sind Beziehungen, die sich gegenseitig befruchten, zu etwas Mächtigem werden und dem herrschenden Patriachat der 1950er, in der Schachwelt und darüber hinaus, einen beherzten Mittelfinger entgegenstrecken. Das alles macht Beth Harmon zu einer fantastischen Erscheinung, die künftig hoffentlich vielen Frauenfiguren in Film und Fernsehen als Inspiration dient.

Szene aus der Serie "The Queen's Gambit"

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Schachrivale Harry Beltik entwickelt eine ungewöhnliche Beziehung zu Beth

Aber auch die Männer der Serie sind bei weitem nicht alle Arschlöcher (es gibt natürlich Ausnahmen, etwa Beths Adoptivvater). Da wäre einmal der Hausmeister, Mr. Shaibel. Der ist zunächst eine düstere Erscheinung als vermeintlicher Bewohner des Waisenhaus-Kellers. Bald aber erweist er sich als gutherziger Kerl und loyaler Förderer ihres großen Talents. Dann ist da Harry Beltik (gespielt von Harry Melling, zuletzt gesehen als manischen Prediger in „The Devil All The Time“), dem Beth in ihrem ersten Turnierfinale gegenübersitzt. Der zunächst arrogant und gemein wirkende Schachspieler entpuppt sich ebenso als gute Seele, zu der Beth später eine ungewöhnliche Beziehung aufbaut. Und auch der Profispieler Benny Watts (Thomas Brodie Sangster mit Cowboyhut sieht leider aus wie ein Teenager, den man als Erwachsenen verkleidet hat) schafft es, sein großes Ego zurückzuschrauben, Beth neidlos als die bessere Spielerin anzuerkennen und ihr sogar den Rücken zu stärken. Es wirkt manchmal tatsächlich schon zu schön, um wahr zu sein.

Schachspiel in Zeiten des Kalten Kriegs

Neben den starken und sympathischen Figuren und der Faszination für das Schachspiel an sich, die die Serie zweifelsohne vermittelt, hat „The Queen’s Gambit“ auch eine spannende historische Komponente. Die Handlung spielt nämlich zur Zeit des Kalten Kriegs. Die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion nehmen zu und das hat auch Auswirkungen auf die Schachwelt. Während in den USA Schach noch eine vernachlässigte, von Hobbyspielern in wenig glamourösen Hörsälen ausgeübte Sportart ist, ist sie in der Sowjetunion Nationalsport. So soll dann auch Beth Harmon in diesem Konflikt instrumentalisiert werden, um die sowjetische Schachnation zugunsten der USA zu demütigen. Es wäre aber nicht Beth Harmon, hätte sie auch nicht in dieser Sache ihren eigenen Kopf.

Bei all der Rivalität und menschlichen Tragödien, die die Drama-Miniserie „The Queen’s Gambit“ durchaus parat hält, setzt die Serie auch auffallend viel positive Energie frei. Sie wirkt dadurch, vor allem zum Ende hin, fast schon märchenhaft. Aber gerade diese märchenhafte Harmonie findet bei mir, speziell in diesem seltsamen Jahr - und damit sind wir wieder zurück im schnöden Alltag - vollsten Anklang. Bitte mehr davon. Und bitte mehr Beth Harmons in Film und Fernsehen.

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