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Ein Coming-Of-Age-Szenario im Berlin der 90er Jahre

Die Mauer ist gefallen, der Leerstand füllt sich allmählich und die Stadt verändert sich: Mitten in Berlin bekommt auch der junge Andrej die Umwälzungen seiner Zeit mit. In „Am Rand der Dächer“ von Lorenz Just lernen wir sein Berlin der 90er-Jahre aus Kinderaugen kennen.

von Michaela Pichler

Ziemlich genau 31 Jahre ist es nun her, dass die bekannteste Mauer der europäischen Geschichte gefallen ist. Der Eiserne Vorhang hatte schon lange vor dem Mauerfall am 9. November 1989 tiefe Risse. Als mit dem Einsetzen der 1990er Jahre das Zeitaler der Wende eingeläutet wird, markiert es das Ende des Kalten Krieges und einen Anfang für ein wiedervereintes Deutschland. Eine Mauer, die nicht nur ganze Länder getrennt hat, sondern auch Städte wie Berlin: Dort wächst auch Andrej auf, der Protagonist im Debütroman „Am Rand der Dächer“ von Lorenz Just. Geboren noch in Ost-Berlin, bekommt Andrej die Mauer als Kleinkind mit, hauptsächlich, wenn seine Eltern abends mit Bekannten bei Tisch flüstern. Schon wieder ist ein Tunnel eingebrochen, den sich zwei Flüchtende als Ausweg in die Freiheit versprochen haben. Geflüstert wird von der Mauer als „Todesstreifen“, als „Niemandsland“, während die Freunde der Eltern von ihren Streifzügen durch die verlassenen Wohnungen berichten.

„Es war eine Zeit, die ihre ganz eigenen Gruselgeschichten hervorgebracht hatte.“

Mitten in dieser Zeit wächst Andrej auf und beobachtet mit seinem kindlichen Blick, wie sich alles nach der Wende verändert. Andrej, der das erste Mal einem Punk begegnet, das erste Mal ein besetztes Haus erkundet. Der zusieht, wie die Leerstände sich langsam wieder füllen und ganz neues Leben im Viertel auftaucht. Ein gentrifiziertes Leben, an dem sich die Altbewohner*innen wie die Hausbesetzer*innen ein Stück vom Kuchen abschneiden wollen. Der Ich-Erzähler Andrej beobachtet das nicht nur in den Häusern, sondern auch immer wieder auf den Dächern Berlins.

„Es war wie an einem Strand hier oben, ein schwarzer, windstiller Strand, und das Meer war die Tiefe der Straße, sein Rauschen erreichte uns gerade so.“

Am Rand der Dächer

Dumont Verlag

Der Debütroman „Am Rand der Dächer“ von Lorenz Just ist im Dumont-Verlag erschienen.

Zwischen Adrenalinkicks und der Suche nach Identität

Im Roman bewegen sich Andrej und sein bester Freund Simon nicht nur auf den Dächern der Stadt, sondern immer wieder auch am Rande der Kriminalität. So steigen sie über Dachluken in Wohnungen ein und klauen Diebesgut: CDs, Alkohol oder Stereoanlagen werden zu geheimen Schätzen, zu kleinen Trophäen, die sie nur heimlich feiern können. Wenn Andrej nicht gerade einen weiteren Raubzug plant, geht er seinem neuesten Hobby nach, das so gar nichts mit Ostdeutschland zu tun hat. „Durch die Tierklinik abkürzen, raus bei der Charité, aufs Gelände der frisch sanierten Grundschule, hinter der Turnhalle der Basketballkorb, dort spielten, trainierten wir, ein völlig neues Spiel, das keiner meiner Vorväter je gekannt hatte, nie gespielt hatte, es war etwas völlig anderes.“

Basketball wird für Andrej eine fixe Idee: Ein Teil einer neuen Identität, die sich am mystischen Land der unbegrenzten Möglichkeiten orientiert - den USA. Der Traum eines Auslandsjahres in den Staaten rückt immer näher und bis es soweit ist, wird am Asphalt gedribbelt. „Wir gehörten einer Jugendbewegung an, die nicht einmal annähernd die Wiederholung einer Jugendbewegung unserer Eltern war, deren Leben unter so ganz anderen Sternen verlaufen war als unseres. Meine Eltern wollten von Amerika, vom Westen, von dieser ganzen Popkultur, die uns da überschwemmte, nichts wissen, für sie schienen wir fast schon Opfer des Stockholm-Syndroms zu sein, die alles daran setzten, es der Herrschaft, die ihr ganzes Leben zu vereinnahmen drohte, möglichst recht zu machen.“ Mit dem Traum von Nordamerika grenzen sich Andrej und seine Freunde nicht nur von ihrer Elterngeneration ab, sie erschaffen auch ein Ideal in ihren Köpfen, ein Traum, an dem man sich anhalten kann wenn es rundherum bröckelt.

„So gut wir eben konnten, bauten und tüftelten wir an unserem Amerika herum.“

Abseits der altbekannten Berlin-Legenden

Auf der Suche nach Sicherheit und Zugehörigkeit erlebt man in „Am Rand der Dächer“ Andrejs Berlin. Ein Blickwinkel, den der Autor Lorenz Just auch selbst gut kennt: Kurz vor dem Mauerfall ist er im Kindesalter mit seinen Eltern nach Ost-Berlin gezogen. Als Islamwissenschafter arbeitet Just später in Beirut, vor drei Jahren veröffentlicht er den Kurzgeschichtenband „Der böse Mensch“. In seinem Roman-Debüt „Am Rand der Dächer“ skizziert Lorenz Just ein Coming-Of-Age-Szenario, das nichts mit altbekannten Berlin-Legenden dieser Zeit zu tun hat. Ohne illegale Raves, dafür aber mit viel Beobachtungsgabe und großen Bildern wird eine vorsichtige Geschichte des Aufwachsens erzählt, in einer Zeit voller Umbrüche.

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