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Daisy Johnson schaut aus einem Fenster

Pollyana Johnson

Daisy Johnsons Debütroman über eine toxische Mutter-Tochter-Beziehung

Daisy Johnson war die jüngste Autorin, die je für den großen britischen Literaturpreis, den Booker Prize, nominiert wurde. Mit ihrem Debütroman kam sie bis in das Finale. Vor „Untertauchen“ veröffentlichte die Engländerin einen Kurzgeschichtenband. Dabei standen Frauen im Mittelpunkt. Das trifft auch auf den Mutter-Tochter-Roman „Untertauchen“ zu.

Von Eva Umbauer

„Am unwegsamen Ufer vertäut lag ein Boot, an dessen Seiten sich Gestrüpp emporrankte. Ich holte die Karte heraus und drehte sie erst in die eine, dann in die andere Richtung. Es bestand kein Zweifel. Das war der Ort, an dem wir gelebt hatten, bis ich dreizehn war.“

Bevor Daisy Johnson zu schreiben beginnt, legt sie immer ein genaues Setting fest, wo die Geschichte handeln soll. Bei „Untertauchen“ - im englischsprachigen Original „Everything Under“ - ist das eine Gegend im englischen Oxfordshire, etwa neunzig Kilometer nordwestlich von London gelegen. Daisy Johnson selbst lebt in Oxford, am Ufer der Themse.

Die Autorin hat in Oxford studiert, aufgewachsen ist sie in den Fenlands, einer Moorlandschaft in Mittelengland. Die Fens sind eine faszinierende Gegend, östlich von Cambridge, bis zum Meer reichend. Als Daisy Johnson in ihrer Kindheit und Jugend in den Fens zur Schule fuhr, blickte sie gern zum Autofenster hinaus und ließ ihren Gedanken freien Lauf, wusste vielleicht schon damals, dass sie einmal schreiben würde, erst Kurzgeschichten und dann einen Roman.

Buchcover: Illustration mit Pflanzen und Tieren

btb

„Everything Under“ von Daisy Johnson erschien 2018 beim Verlag Jonathan Cape in London. Diesen Herbst wurde der Roman beim deutschen Verlag btb unter dem Titel „Untertauchen“ veröffentlicht, aus dem Englischen übersetzt von Birgit Maria Pfaffinger.

Gretel und Sarah

Gretel, die Hauptfigur in „Untertauchen“, sucht ihre Mutter. Daisy Johnson nennt dieses Kapitel „Die Jagd“. Andere heißen „Das Cottage“ oder „Der Fluss“. Gretels Mutter ist eines Tages vom Hausboot am Fluss verschwunden, ihre Tochter kommt zu Pflegeltern und muss sich ihren Platz in der Welt mehr oder weniger selbst suchen.

Irgendwann fängt Gretel an, nach ihrer Mutter zu forschen. Wie Gretel aus dem Märchen der Gebrüder Grimm findet sie mittels ausgestreuter „Brotkrümel“ zu ihr zurück. Diese Krümel sind Einzelheiten aus dem vergangenen gemeinsamen Leben der beiden Frauen, durch die sie ihre Mutter ausfindig machen kann.

Sechzehn Jahre sind vergangen. Was war damals passiert, in jenem Winter am Fluss, sodass Sarah, so der Name von Gretels Mutter, ihre Tochter verlassen hat? Dies und noch mehr will Gretel ihre Mutter fragen, um endlich so vieles vielleicht verstehen zu können. Doch der Gesundheitszustand von Sarah ist kein guter.

„Du vergisst, wo du deine Schuhe gelassen hast, obwohl du sie an den Füßen trägst. (...) Also fange ich an, deine saubere Unterwäsche in der Schublade mit dem Besteck aufzubewahren. Mache ich den Kühlschrank auf, entdecke ich meinen Laptop, das Telefon, die Fernbedienung. Mitten in der Nacht rufst du nach mir, und wenn ich angerannt komme, fragst du, was ich hier verloren hätte. Du bist nicht Gretel, sagst du. Meine Tochter Gretel war wild und wunderschön. Du bist nicht sie.“

Daisy Johnsons „Untertauchen“ ist eine berührende Geschichte mit Themen wie Demenz, toxische Familie, Sexualität und Gender. Aber auch die Natur und das Leben im Einklang mit ihr spielen eine wichtige Rolle, wobei auch Übersinnliches dazukommt, etwa ein Monster, genannt der „Bonak“. Gespukt hat es ja auch schon in „Fen“, der Kurzgeschichtensammlung von Daisy Johnson, wo es um Frauen in den Dörfern der Fenlands geht, um Magersucht und häusliche Gewalt, und wo sich ein Haus, ja, ein Haus in ein Mädchen verliebt.

Magischer Realismus

Der magische Realismus von Daisy Johnson ist in „Untertauchen“ etwa auch von der griechischen Mythologie inspiriert. Daisy Johnson versteht es, mit Sprache umzugehen. Ihre Sprache ist wunderschön, poetisch, virtuos und geschmeidig, auch wenn der Roman nicht immer ganz einfach zu lesen ist, man sich immer wieder durchaus konzentrieren muss, um in dieser herrlich verworrenen Geschichte Zusammenhänge zu verstehen. Gretel, Sarah, Marcus, Margot, Fiona...

Ende gut, alles gut in diesem bezaubernden modernen Märchen von der jungen Frau namens Gretel? Nein, natürlich nicht wirklich, aber es wäre auch zu banal, wenn es so wäre.

„Es ist wieder Winter. Am Morgen röchelt und röhrt die Heizung, und die falsche Seite der Fenster ist mit Frost überzogen. Das Radio ist voller Autounfälle und Zugverspätungen. In diesem Jahr vermisse ich die Winter am Fluss. Die Stille. Ich warte, dass du zurückkehrst. Wenn jemand wiederkommen würde, um bei mir zu spuken, dann du.“

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