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"Bei mir zuhause": Die Autorin zeichnet sich selbst, wie sie am offenen Dachfenster ihrer Wohnung sitzt

Jaja Verlag

graphic novel

Paulina Stulin zeichnet eindrucksvoll ihr Zuhause

Was für ein Buch! Was für eine Bilderflut! Was für eine Arbeit! Auf über 600 Seiten öffnet die Zeichnerin Paulina Stulin mit dieser großartigen Graphic Novel mehrere Fenster. Eines aus ihrer Wohnung in die Welt, die sie umgibt. Aber auch eines in ihr Inneres, in ihre Gedanken, Ideen, Träume.

Von Zita Bereuter

„Es könnte so rüberkommen: Meine Güte, wie selbstbesoffen ist die, dass sie denkt, ihr Leben ist so interessant, dass sie daraus einen 600-Seiten-Schinken macht?“, gibt Paulina Stulin zu bedenken. Sie könnte das verstehen. „Ich möchte aber tatsächlich dafür Werbung machen, dass jedes noch so ‚stinknormale Leben‘ hochinteressant ist.“

Paulina Stulin beim Zeichnen am Tisch

Alex Jakubowski

Ihr erster Comic „Mindestens eine Sekunde. Und höchstens dein ganzes Leben“ handelt von einer fiktiven Person, die stark an Paulina Stulin angelegt ist.

In ihrem zweiten Comic „The Right Here Right Now Thing“ wird sie noch persönlicher.

Für Paulina Stulin war es daher ein „folgerichtiger nächster Schritt: Es geht nur mehr um mich.“

Jedenfalls hochinteressant ist das Leben von Paulina Stulin. „Bei mir zuhause“ ist für Paulina Stulin eine 34 Quadratmeter große Dachwohnung in Darmstadt. Das ist seit 15 Jahren ihr Nest, ihr Zufluchtsort, ihre Homebase. Durch das große Dachfenster beobachtet sie die Welt. Neben diesem Fenster nach außen öffnet diese Graphic Novel auch ein Fenster nach innen – in Paulinas Gedanken, Ideen, Träume und Ängste, in die Gefühlswelt der gut 30-Jährigen. Doch auch wenn sie von sich erzählt, stellt sie sich die Frage: „Wer bin ich eigentlich?“ Und gibt sich gleich die Antwort: „Ich bin ja die Reflexion meiner Umwelt. Ich portraitiere bewusst sehr viele andere Menschen, indem ich mit ihnen in Dialog trete.“

Dabei bildet Paulina Stulin auch gesellschaftliche Entwicklungen ab, wie etwa den Rechtsruck, oder stellt sich kritisch gegen Neoliberalismus. Paulina zeigt ihren Alltag: Ob Beziehungsende, Arbeiten, Abhängen mit Freund*innen, Urlaub, Putzen, One-Night-Stands oder traurige Einsamkeit in der kleinen Wohnung, immer erzählt sie schonungslos offen, intim, ehrlich und mit einem Hang zum Peinlichen.

Comic "Bei mir zuhause": Verschiedene Mahlzeiten

Jaja Verlag | Radio FM4

Auch wenn Paulina immer im Mittelpunkt ist, hat das mit Narzissmus und Selfiekultur wenig zu tun, sondern steht mehr im Sinne der New Sincerity. Paulina sieht das als Gegenentwicklung zu den ironischen 1990er Jahren, in denen vieles nur als „Hahaha“-Witz gemeint war und man meistens uneigentlich gesprochen hat. „Da sehe ich die Sehnsucht im Geschichtenerzählen nach Aufrichtigkeit, nach Authentizität, nach Echtheit. Und nach persönlichem, subjektivem Erleben.“

Zuhause im Körper

Besonders authentisch wird es, wenn Paulina mit ihrem Körper hadert. Denn in „Bei mir zuhause“ geht es auch um das Zuhause-Sein im eigenen Körper. Bodyshaming ist eigentlich nichts für die überzeugte Feministin, dennoch versucht sie im Laufe der Geschichte abzunehmen. Das sind Szenen, bei denen sie viel mit sich gehadert hat. Aber schließlich will sie ehrlich zu diesen inneren Widersprüchen stehen. Denn nur so kann sie die Gesellschaft widerspiegeln, in der sie sozialsisiert wurde. Und die Scham kann nur überwunden werden, wenn man sie erst mal thematisiert.

Comic "Bei mir zuhause": Alltägliche Handlungen und Gefühle

Jaja Verlag | Radio FM4

„Es gibt zwei Arten von Geschichtenerzählerinnen, solche, die sich so richtig gut in andere Personen reinversetzten können und solche, die im Grunde nur von sich selbst erzählen können. Zu denen zähle ich mich.“ (Paulina Stulin)

Zuhause im Tagebuch

2010 hat Paulina Stulin während eines Auslandssemesters in Krakau das Tagebuchschreiben neu entdeckt. „Das ist wie so ein Fischernetz, mit dem ich am Abend die ganzen auffälligen und interssanten Dinge sammelte, die mich berührt oder ergriffen haben.“ Aus dieser Sammlung hat sie dann Dinge geformt und in Gestalt gebracht und das über die Jahre für sich kultiviert. Nach Durchhängern hat sie damit 2015 wieder begonnen und dieses Tagebuch als Basis für den Comic genommen.

Zuhause in Farben

Paulina Stulin zeichnet bildgewaltig ihr Zuhause, ihr Leben. Dabei hat sie ohne Fotovorlagen gearbeitet, weil ihr die erinnerte Atmosphäre, die Gesamtstimmung wichtiger war. Meistens sind es leuchtenden Farben, manchmal eher gedämpfte und düstere oder Rottöne. Das wirkt wie große Pinselzeichnungen, aber Paulina Stulin hat alles am Tablett gezeichnet. So muss sie sich nicht der "Trägheit der Materie“ anpassen und etwa darauf warten, bis Farben getrocknet sind, sondern kann direkt weiterarbeiten.

Comic "Bei mir zuhause": Alltägliche Handlungen werden gezeichnet, zum Beispiel das Schuhebinden

Jaja Verlag | Radio FM4

Zuhause im Spiegel

Ohne Fotos wurde der Spiegel zu einem wichtigen Werkzeug. Während des gesamten Prozesses hat Paulina Stulin Grimassen geschitten und abgezeichnet. Für sich und für ihre Charaktere. Dabei hat sie häufig die Charaktere so lange im Spiegel nachgespielt, sich in bestimmte Positionen gelegt, die Mimik verändert und Körperhaltungen nachgefühlt, bis sie endlich das Gefühl, das sie ausdrücken wollte, stimmig empfunden hat. Dann ist sie zurück ans Grafiktablett gerannt und hat aus ihrem motorischen Gedächtnis heraus gezeichnet.

„Bei mir zuhause“ von Paulina Stulin ist im Jaja Verlag erschienen.

Zuhause in der Phantasie

An einer Stelle trifft Paulina Stulin zufällig auf eine Freundin aus alten Zeiten, die längst weggezogen ist. Diese Freundin kann kaum glauben, dass Paulina immer noch in Darmstadt und noch dazu in der gleichen Wohung lebt. „Es gibt noch so viel mehr als diesen pupsigen Kleinstadtkosmos.“ Paulina erklärt ihr, dass sie es eben gerne bequem in ihrem Nest habe und vor allem: „Es hat sich die ganze Zeit mit mir verändert.“

Comic "Bei mir zuhause": Gegenüberliegende Balkone

Jaja Verlag | Radio FM4

Ich reise jeden Tag durchs Reich der Phantasie.

„Ohne Phantasie wäre alles so langweilig und öde und überhaupt nicht lebenswert“, meint sie im Interview und hält es für einen Irrtum zu glauben, „nur weil man sich geographisch viel auf dem Erdball rumbewegt, hat man automatisch einen breiteren Horizont“. Man könne auf allen Erdteilen gewesen sein und sich dennoch nicht vom Fleck bewegt haben, weil man eben täglich das Gleiche mache und keine offenen Augen habe. „Aber man kann in einem kleinen pupsigen Ort wie Darmstadt weilen und jeden Tag etwas Neues entdecken. Auch in Darmstadt ist die Unendlichkeit und auch auf meinen 34 Quadratmetern bleibt kein Stein auf dem anderen“, lacht sie.

Zuhause im Reich der Kunst

Paulina Stulin hat fünf Jahre an diesem großen Werk gearbeitet. Eine Definition für ihr Zuhause kann sie doch nicht geben. Schließlich aber meint sie: „Das wichtigste Zuhause ist vielleicht für mich das Reich der Kunst. Dort fühl ich mich total aufgehoben. Dort, wo gesungen wird, herumgesponnen wird, dort, wo Quatsch gemacht wird, da fühl ich mich zugehörig. Leute, die so was Verspieltes machen, die ihre Lebenszeit dafür verwenden, Geige zu spielen und zu malen und Filme zu machen, das sind so meine Leute, da spür ich immer so: Das ist mein Stamm.“

Comic "Bei mir zuhause"

Jaja Verlag | Radio FM4

Zuhause in unserem Zuhause

„Bei mir zuhause“ ist eine der eindrucksvollsten Graphic Novels der letzten Jahre. Gerade im Lockdown macht es Freude, Paulina Stulin kennenzulernen. Ein farbenfroher, prächtiger Kurzurlaub in Darmstadt.

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