Das weltbeste Land von allen anderen Ländern

...und ich darf drin wohnen. Warum es mich und den hiesigen Bildungsminister gar nicht überrascht, dass wir die ersten sein werden, die die Covid-Impfung kriegen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich muss hier kurz was loswerden.

Schicke wie fast jedesmal voraus: Falls es für euch, wo immer ihr seid, unter den im Folgenden beschriebenen Ereignissen was aus der eigenen Umgebung wiederzuerkennen gibt, ist das zwar von mir nicht beabsichtigt, aber auch sicher kein Zufall. Schließlich ist blanke Ignoranz, die sich selbst für schlau hält, überall auf der Welt gleich gefährlich und erbärmlich.

Also: Mein Kreislauf an Gemütszuständen hat sich wieder einmal weitergedreht: Von der ironischen Distanz zur hilflosen Wut. Das ist eine sehr unelegante Phase, aber ich weiß aus Erfahrung, da muss ich durch.

Auslöser des Kippens meiner Contenance war gestern die Wortmeldung eines rotwangigen Heißlufterzeugers namens Gavin Williamson, der aus fraglos unappetitlichen Gründen, die ich im Detail nie erfahren will, trotz seiner deutlichen Markierung auf Google-Maps als kompetenzfreie Zone ohne Öffnungszeiten seit Jahren beharrlich als bezahlte Besonnenheitsblockade durch die konservativen Kabinette von May bis Johnson geistert. Derzeit – ein Zeichen von Johnsons maßlos überschätztem Sinn für Humor – als Bildungsminister.

Disclaimer: Dann und wann lässt irgendwer in Großbritannien einen meiner Blogs hier durch Google-Translate laufen und beschwert sich dann auf Twitter, dass ich tendenziöse Inhalte verbreite.

Dem entgegne ich vorsorglich: Es ist vielmehr Ausdruck meines Willens zur größtmöglichen Wertfreiheit unter voller Nutzung all meiner empathischen Kapazitäten, wenn ich Williamsons gestrige Wortmeldung während eines Interviews mit dem Londoner Schwadronantenradiokanal LBC seiner unverschuldeten, kognitiven Unfähigkeit zuschreibe, es besser zu wissen.

Da wurde er unter anderem dazu befragt, ob Großbritannien – wie am selben Tag von Gesundheitsminister Matt Hancock im Unterhaus unrichtig behauptet – wegen seiner durch den Brexit erlangten Unabhängigkeit ein Monat vor der Europäischen Gesundheitsbehörde den Pfizer/BioNTech-Impfstoff zur Verwendung zulassen konnte.

Der rotwangige Heißlufterzeuger wollte sich darauf nicht einlassen, sondern setzte lieber noch einen drauf (bitte Verzeihung für den Mangel an geschlechtsneutralen Formen, aber ich versuche in meiner Übersetzung dem Geist des Urhebers gerecht zu werden):

„Ich denke einfach, dass wir in diesem Land die allerbesten Leute haben“, sagte Williamson, „und wir haben offensichtlich die beste medizinische Zulassungsbehörde, viel besser als die, die die Franzosen haben, viel besser als die, die die Belgier haben, viel besser als die, die die Amerikaner haben. Das überrascht mich gar nicht, denn wir sind ein viel besseres Land als jedes einzelne von ihnen.“

Das Büro des Bildungsministers rechtfertigte diese Bemerkung seines Chefs damit, dass sie Teil einer „light-hearted“ Konversation gewesen sei. Klar, wir alle führen gern unsere launigen Gespräche über tödliche Seuchen, wer sollte das nicht witzig finden. Vielleicht versteh ich Williamsons Humor ja bloß nicht, weil er viel besser ist als der, den die Franzosen haben, viel besser als der, den die Belgier haben, viel besser als der, den die Amerikaner haben. Das überrascht mich gar nicht, denn er kommt aus einem viel besseren Land als jedes einzelne von denen.

Ungeachtet der Tatsache, dass der Impfstoff in Deutschland in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Konzern Pfizer entwickelt wurde und in Belgien hergestellt wird.

Wie es sich ergibt, fahre ich auf dem Weg zur Küste immer wieder an einem großen, umzäunten Komplex gelber Ziegelgebäude vorbei. Dort, in der Nähe der Stadt Sandwich, pflegten einmal 5000 Leute für den Pharmakonzern Pfizer zu arbeiten. Im Jahr 2007 wurde die Medikamentenproduktion abgesiedelt und die Belegschaft halbiert, 2011 wurde die ganze Dependance geschlossen, seither steht das Pfizer-Werk als gelber Elefant ungenützt in der Gegend herum.

Eine ziemliche Verschwendung eigentlich, sowas stillzulegen, in einem Land, das besser ist als alle anderen. Pfizer war damals ein starker Anziehungspunkt für dort angestellte Expert*innen aus der ganzen Welt, und ich kenne persönlich mindestens eine ursprünglich deutsche Familie, die nach der Abwanderung des Konzerns das beste aller Länder verlassen hat. In Richtung Wien übrigens.

Aber ich gönne dem rotwangigen Heißlufterzeuger seine Freude über die bereits in ihren Hunderttausenden in speziellen Gefrier-Transportern aus Belgien importierten Impfungen. Er ist halt nicht fähig, diese Freude auf national neutrale Weise auszudrücken, das liegt nicht in seinem emotionalen Repertoire.

Noch tragischer als seine Figur ist bloß der Umstand, dass Großbritannien gleichzeitig dank seiner starren Verhandlungstaktik mit der EU auch mit vier Wochen bis zur Deadline noch auf die absehbare Katastrophe eines No Deal-Szenarios zusteuert. Heute hat Frankreich mit dem Veto gedroht, falls ein ausgehandelter Deal die französische Fischerei benachteiligen sollte.

Wie eigentlich auch abzusehen war, wenn man bloß die Fähigkeit hätte, miteinzurechnen, dass auch Menschen aus weniger besseren Ländern als dem eigenen aus innenpolitisch opportunem Nationalismus irrationale Dinge tun können.

Die Frage, ob ein No-Deal-Brexit den weiteren Import von Impfstoffen und anderen Medikamenten behindern könnte, wurde schon des öfteren gestellt. Schon mehrfach von Regierungsvertreter*innen gehörte Antwort: Man werde den Impfstoff dann eben per Flugzeug statt per Fähre importieren.

Yeah.
Genau.

Das sollte alle Import-Beschränkungen mangels Handelsabkommen außer Kraft setzen.
Gottseidank lebe ich im Land mit der besten aller Regierungen. Das überrascht mich gar nicht, denn es ist ein viel besseres Land als jedes andere.

Was ich noch gern gewusst hätte:
Wenn ich hier lebe, bin ich dann eigentlich auch einer von den allerbesten Leuten?