Abtauchen in die innere Gefühlswelt
Wir sind alle die Kinder unserer Eltern. Die Erlebnisse dieser Beziehung prägen uns fürs Leben. Vor allem, welche Rollenbilder wir vorgelebt bekommen. Der niederösterreichischer Autor David Bröderbauer beschäftigt sich in seinem neuen Roman „Waltauchen“ auf sehr feinfühlige Art und Weise mit dem Thema Vaterschaft und Männlichkeit.
Kammerspiel im Spenderaum
Der namenlose Ich-Erzähler sitzt beim Urologen im Samenspenderaum und versucht angestrengt, sich in die richtige Stimmung zu bringen. Seine Probe wird ihm Auskunft darüber geben, ob sein innig gehegter Kinderwunsch sich auch realisieren lässt. Zumindest von seiner Seite her. Denn mit seiner Freundin Vera hat er es noch nicht geschafft, sich über dieses Thema ernsthaft auszutauschen. Schon bei der Frage des Wohnorts geraten die beiden wegen ihrer unterschiedlichen Zukunftsvisionen aneinander. Während er überlegt, aufs Land zu ziehen, sieht Vera die Vorteile der Stadt, dass immer etwas los ist. All ihre Freunde sind hier und kulturell gibt es auch viel zu erleben. Doch unser Erzähler sehnt sich nach Ruhe und Erdung, frei von Hektik und Getümmel.
Durch die Schüchternheit und Angst, seine wahren Bedürfnisse zu äußern, stauen sich die Gefühle im Inneren des Erzählers an, die ihn wie Flashbacks immer wieder in seine Kindheit zurückversetzen. Die Situation im Spenderaum der Arztpraxis beginnt sich immer mehr mit Momenten seiner Kindheit zu vermischen, als er noch davon geträumt hat, Meeresbiologe zu werden.
„Ich stelle mir vor, ich sitze im Bauch eines Wals und tauche ab in die Tiefe, das Licht der Lavalampe ist der Schein des Meeres, der durch die Walhaut dringt, ich atme den Geruch des Desinfektionsmittels ein, als wäre es der Meeratem des Wals, ich höre kein Telefonläuten mehr, keine Schritte, nur das schwache Rauschen der Lüftung, das das Geräusch von Walblut ist, wenn es durch die armdicken Adern strömt.“
Lieber Vätermänner oder Nursöhne?
David Bröderbauer versteht es sehr gut, einem die innere Gefühlswelt des Erzählers nach und nach zu vermitteln. Wie ein Mosaik setzt er die Erlebnisse der Kindheit chronologisch zusammen und somit wird auch die Gegenwart des Erzählers verständlich. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Thema Erwachsenwerden und Männlichkeit durch die Reflexion der Vergangenheit. Bestimmt werden seine Erfahrungen durch den unnahbaren, wortkargen Vater, der aus einer Bauernfamilie stammt, der vielmehr mit seinem älteren Bruder eine Verbindung zu haben scheint. Zu sensibel wirkt der Ich-Erzähler, zu sehr in sich zurückgezogen und oft orientierungslos, als dass er mit den anderen Knaben sich austauschen oder gar beweisen könnte.

Milena Verlag
Das Buch „Waltauchen“ von David Bröderbauer ist im Milena Verlag erschienen.
Seine Suche nach einem passenden Männerbild lässt ihn oft mit einem großen Fragezeichen zurück, was auch das Ausdrücken seines Kinderwunsches hemmt. Denn was macht einen Vater aus, gegenüber jenen, die ewig die Söhne bleiben?
„Vatermänner tragen oft Sachen und gehen schnell, ist mir aufgefallen. Eine Auswahl an Mehlspeisen in der Hand, queren sie wochenends den Zebrastreifen, in der anderen Hand eine vollgestopfte Leinentasche, und vor ihnen läuft ein Kind mit einem Laufrad. Nursöhne fahren Fahrrad, sie bremsen notgedrungen und schlängeln sich zwischen Vater und Kind durch, obwohl die Ampel für sie auf Rot steht. (...) Vatermänner erwerben Eigentum, sie tragen am Samstagvormittag Trainingsanzüge und bauen auf ihren Balkonen Möbelstücke zusammen. Nursöhne sitzen am Samstagvormittag am Fenster, sie rauchen und sehen den Vatermännern gegenüber beim Handwerken zu.“
Mit reduzierter und einfacher Sprache lässt uns der österreichische Autor David Bröderbauer, immer durch die Augen seines Erzählers, in die Vergangenheit und auf die Gegenwart blicken. Durch seine feinfühlig Art, das Innenleben der Hauptfigur zu entfalten, bekommen selbst die alltäglichen Beobachtungen eine emotionale Dringlichkeit. Die berührende und gleichzeitig unaufgeregt erzählte Familiengeschichte bildet den Rahmen für die Reflexion über Männerrollen und eingefahrene Beziehungsmuster und ist zugleich eine spannendes Psychogramm einer „ganz normalen, österreichischen Familie“.
„Waltauchen“ besticht aber auch durch die schönen Meeres- und Walmetaphern und lässt dadurch die manchmal melancholischen und dunklen Rückblicke in einem hoffnungsvollen und strahlenden Licht erscheinen. So ist David Bröderbauer ein berührendes und auch mutiges Buch über die Suche nach einer neuen Männlichkeit und alternativen Vaterrolle geglückt.
Publiziert am 19.12.2020