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Refugees in Wald in Bosnien

Ben Owen-Browne für SOS Balkanroute / www.benowenbrowne.com

Wintereinbruch bedroht Tausende Flüchtlinge in Bosnien

Geschätzt 3.000 Menschen laufen Gefahr im Norden Bosniens zu erfrieren, weil sie keine feste Unterkunft haben. Wir haben mit dem Aktivisten und Rapper Kid Pex über die Situation vor Ort und die Hilfsorganisation SOS Balkanroute gesprochen.

Auch letztes Jahr um diese Zeit haben wir von den katastrophalen Zuständen in den bosnischen Flüchtlingslagern berichtet. Im Lager Vučjak nahe der kroatischen Grenze wurden damals Zelte auf einer ehemaligen Müllhalde aufgestellt und die Menschen dort sich selbst überlassen. Dieses Lager wurde zwar mittlerweile geschlossen, aber die Lage der Flüchtlinge hat sich seitdem nicht verbessert. Sie sind - oft ohne zuverlässige Wasser- und Stromversorgung - in anderen Lagern untergebracht worden oder leben sogar in wilden Camps in Wäldern. Laut Medienberichten laufen aktuell knapp 3.000 Menschen in Nord-Bosnien Gefahr zu erfrieren, weil sie keine feste Unterkunft haben.

Vor Ort ist der Aktivist und Rapper Kid Pex mit der Hilfsorganisation SOS Balkanroute. Conny Lee hat mit ihm über die aktuelle Situation in Bosnien gesprochen.

Refugees in Wald in Bosnien

Ben Owen-Browne für SOS Balkanroute / www.benowenbrowne.com

Nicht alle finden einen Platz in den ohnehin schon schlecht ausgestatteten Lagern. Sie landen dann in solchen wilden Camps in den umliegenden Wäldern.

FM4: Wie ist denn die aktuelle Lage?

Kid Pex: Die aktuelle Lage ist so, dass es die letzten drei Jahre seit der Schließung der Balkanroute eigentlich immer schlimmer wird. Wir stehen hier kurz vor der Eskalation. Also 1.500 Menschen werden dieser Tage wahrscheinlich auf der Straße landen. Das große IOM Camp Lipa wurde für 1.500 Menschen gebaut, aber dort wurden bis zum Winter keine Elektrizität und keine Wasserversorgung sichergestellt. So geht man mit Menschen um, drei Stunden von der österreichischen Grenze entfernt. Das ist die europäische Realität.

FM4: Gerade was das Flüchtlingslager Lipa anbelangt, gab es ja schon Forderungen, das Lager zu schließen und die Menschen in einer festen Unterkunft zu versorgen. Hat sich denn schon irgendwas in diese Richtung bewegt?

Kid Pex: Nein, es bewegt sich nichts und ich bin sehr skeptisch, dass sich etwas bewegen wird. Es gibt keinen Ersatz für Lipa. Lipa wird geschlossen. Die Menschen werden auf der Straße landen. Der Bürgermeister von Bihać, wo ein voll funktionierendes Camp wäre, zumindest was die Elektrizität und die Wasserversorgung angeht, stellt sich quer. Er sagt: Wir haben genug, wir haben die Schnauze voll und wir werden nicht mehr mitspielen mit Europa. Und insofern... also ich weiß echt nicht, was da ablaufen wird, wenn diese 1.500 Menschen auf der Straße landen und nicht mehr zumindest ein Zelt über dem Kopf haben, wenn schon nichts anderes.

FM4: Wie sieht es an der Grenze nach Kroatien aus?

Kid Pex: Die Grenze nach Kroatien? Die ist sehr, sehr dicht. Die Kroaten haben ja wunderschöne Geräte aus Deutschland bekommen. Sie bekommen hier laufend Unterstützung für ihre wunderschöne Grenzüberwachung, wo wir dann immer wieder Bilder von Menschen sehen, die geschlagen von diesen Grenzen zurückkommen. Das ist eine Schande. Das ist wirklich, wirklich, wirklich indiskutabel, aus jeglicher Sicht. Was da passiert, ist eine systematische Gewaltkette, die da vollzogen wird. Wir haben die Pushbacks mittlerweile auf Videos. Dieses Unrecht passiert in unser aller Namen und mit unserem Geld.

Refugees in Wald in Bosnien

Ben Owen-Browne für SOS Balkanroute / www.benowenbrowne.com

FM4: Ihr seid vor Ort mit der Hilfsorganisation SOS Balkanroute, um den Menschen auch dort zu helfen. Wer versorgt denn insgesamt die Menschen dort, die im Wald oder in den Ruinen jetzt Zuflucht gesucht haben?

Kid Pex: Naja, wir sind mit neun Leuten da. Es sind Leute aus Innsbruck, aus Graz, aus Wien da. Junge Menschen, die nicht wegsehen wollen, junge Menschen, die tagtäglich in der Küche stehen, die tagtäglich Lunchpakete machen. Wir haben gestern einen Transport geschafft aus Österreich. Wir haben gesammelt in Linz, in Graz, überall in Wien. Und es sind 8.100 Kilo österreichische Hilfsgüter geworden. Diese Hilfsgüter kommen dann auch an - im Unterschied zu den Hilfsgütern von Herrn Nehammer, der sich da großartig als „Helfer vor Ort“ inszeniert, wo die Spenden dann aber vor Ort, wo sie vor Ort landen sollten, nie ankommen. Wir haben die Spenden schon gestern begonnen zu verteilen. Ich möchte mich bedanken bei vielen, vielen, vielen, vor allem bei der Firma Armada, die uns sogar 260 neue Winterjacken aus Tirol geliefert hat, und bei vielen, vielen guten Menschen, die uns diesen LKW in Österreich gefüllt haben, damit wir zumindest ein bisschen unsere Backe als Gesellschaft reinwaschen und zumindest den Menschen fundamentale, essentielle Sachen geben können.

FM4: Wie ist denn die Stimmung bei der bosnischen Bevölkerung? Das kann man wahrscheinlich so pauschal nicht sagen, aber wie fühlt sich das an für dich? Wie würdest du es beschreiben?

Kid Pex: Naja, Bosnien ist generell ein sehr, sehr tristes Land, ein dysfunktionales politisches System. Es leidet noch immer unter den Folgen des letzten Krieges aus den 90er Jahren. Das spürt man überall, dass das einfach ein dysfunktionaler Staat ist und insofern ist das auch so zu bewerten. Natürlich sind die Bosnier übermüdet und erschöpft - aber trotzdem. Wir haben zwei junge Mädchen, zwei Studentinnen, in Zenica getroffen, im mittleren Bosnien. Es gibt sehr, sehr viele engagierte Einzelpersonen, vor allem Frauen. Ich muss das dazu sagen, weil ja in Österreich das Kopftuch immer so verschrien ist: Hier sind die progressivsten Menschen, Zufall oder nicht, die Frauen mit Kopftuch, die hier Verantwortung übernehmen für die ganze Schande, die der EU zuzuschreiben ist. Die versuchen hier mit ihren bescheidenen Möglichkeiten - selber arm, selber in einem Land mit einem Durchschnittsgehalt von 300 Euro - zu helfen. Wir sind da und wir unterstützen massiv. Wir haben auch mit den jungen Mädels um etwa 2.000 Euro eingekauft. Wir haben hier eingekauft. Wir sind hier am Kochen tagtäglich. Tagtäglich am Kochen. Wir versuchen jetzt Bosniern und Bosnierinnen, die ja sehr wohl sensibilisiert sind und die wissen, was abgeht, und die wissen, dass man diesen Menschen einfach helfen muss aus menschlicher Sicht, zu signalisieren: Hey, wir sind da. Wir werden euch unterstützen und wir werden eure gute Tat einfach weiterhin supporten.

Helferinnen von SOS Balkanroute

Hasan Mahir (SOS Balkanroute)

FM4: Und was macht die bosnische Regierung?

Kid Pex: Sie macht immer wieder Sitzungen und immer wieder wird das Problem von einer Zuständigkeit in die andere Zuständigkeit geschoben. Wir haben letztes Jahr gesehen, das habt ihr auch berichtet, FM4 war ja mit uns im Horror-Camp Vučjak, einem der schlimmsten Camps des Nachkriegs-Europas überhaupt, dass Menschen auf eine alte Müllhalde abgeschoben wurden. Zehn Kilometer fernab der Stadt, damit sie nicht in den urbanen Gebieten sichtbar sind. Dann wurden diesen Sommer Menschen in ein administratives Niemandsland - also zwischen den zwei Entitäten Republika Srpska und Föderation - gestellt. Und auf der einen Seite die Polizei, auf der anderen Seite die Polizei, dazwischen die Menschen, nicht versorgt und ohne Wasser und so weiter. Wir konnten sie dann im Sommer zum Glück versorgen, konnten da durchkommen. Jetzt ist es wieder so: Lipa wird geschlossen. Es gibt keine Lösung. Diese Menschen interessieren keinen. Das ist einfach zu merken. Und es gibt kein Interesse, hier langfristige Lösungen zu finden, die irgendwie halbwegs menschenwürdig wären.

FM4: SOS Balkanroute hat ja immer wieder zu Spenden aufgerufen, hat Hilfslieferungen nach Bosnien gebracht. Wie hat denn das in Zeiten der Pandemie funktioniert?

Kid Pex: Am Anfang, also beim ersten Lockdown, haben wir vor allem massiv Geld runter geschickt, an die lokalen Helfer und Helferinnen der Netzwerke. Wir haben ein sehr gutes Netz aufgebaut in ganz Bosnien, egal ob in Tuzla, in Zenica, in Sarajevo... In Sarajevo - wir waren erst vorgestern dort - haben wir auch queere und homosexuelle Refugees versorgt, die es natürlich in dieser Lage besonders schwierig haben, weil sie doppelt und dreifach schutzbedürftig sind. Also wir haben ein großes Netz hier. Im Sommer sind wir in den Unruhen hierhergekommen, haben eine Küche eröffnet und jetzt sind wir wieder da. Mittlerweile mit 13 Leuten sogar, wenn man alle rechnet. Und ja, wir sind da, die Pandemie ist da. Aber das, was hier passiert, ist unfassbar. Das ist wirklich beschämend. Ich schäme mich jeden Tag. Und ich bin froh, nicht in Österreich zu sein und irgendwo im Warmen zu sitzen, sondern bei den Menschen hier zu sein.

FM4: Dann vielleicht die wichtigste Frage: Wie kann man helfen?

Kid Pex: Berichte teilen, diesen Bericht teilen, weitersagen, Nachbarn informieren. Wir müssen die Menschen informieren, was sich drei Stunden von Österreich entfernt abspielt und wie mit Menschen umgegangen wird. Dass diese Menschen von Polizeigewalt betroffen sind, dass sie immer wieder irgendwohin abgeschoben werden, dass sie immer irgendwo landen. Diese Menschen sind psychische Wracks, die unsere Gesellschaft mittlerweile gezüchtet hat. Schickt uns Spenden, wartet auf neue Sammeltermine. Unser Hilfstransport ist gestern angekommen und wir werden im Jänner wieder neue Sammeltermine veröffentlichen und wieder in Aktion gehen. Damit man da den Winter zumindest irgendwie schafft. Und ich bin sehr skeptisch, dass die Politik irgendeine vernünftige Lösung findet. Das schaut schon seit Jahren nicht danach aus.

FM4: Vielen Dank für das Interview und für deine Arbeit.

Kid Pex: Danke euch! Danke euch und danke allen Leuten. Nicht nur mir, sondern allen. Aus Innsbruck. Graz. Allen. Alles Liebe nach Wien!

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