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SERIE

„Small Axe“ ist ein Serienwunder mit Kino-Ambitionen

Der britische Regisseur Steve McQueen erzählt die Geschichte der Londoner Black Community in fünf Filmen, die inhaltlich und formal neue Maßstäbe setzen.

Von Christian Fuchs

Wenn sich ein provokativer Regisseur dem Thema Rassismus nähert, mit künstlerischem Ehrgeiz und street credibility gleichzeitig, dann ist das der Stoff, von dem Filmfestivals träumen. „Small Axe“ feierte seine Premiere aber auf dem Bildschirm. Die britische BBC finanzierte Steve McQueens epische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Londoner Black Community. Und strahlte die fünf Filme, zu einer Miniserien-Anthologie zusammengefasst, unlängst im Hauptabendprogramm aus.

„Ja, auch sowas läuft zur Primetime auf BBC One“, notierte mein Kollege Robert Rotifer aus diesem Anlass begeistert. Mit diesem Wissen im Hinterkopf kommt man bei „Small Axe“ tatsächlich nicht mehr aus dem Staunen heraus.

Denn Steve McQueen, der Oscarpreisträger, dem wir eindringliche Erforschungen der conditio humana verdanken, Filme wie „Hunger", Shame“ oder „12 Years A Slave“, bedient nicht kommerzielle Sehkonventionen. Die Kamera katapultiert uns etwa direkt in eskalierende Demonstrationen - und bleibt im Geschehen. Wendet sich nicht ab. Verharrt ganz lange mittendrin. Sicher, zwischendurch gibt es klassisches Storytelling. Aber dann nimmt sich McQueen wieder alle Zeit der Welt. Für akribische Milieustudien, politische Backgroundinfos oder um eine Stunde lang die Crowd auf einer mitreißenden spätnächtlichen Reggae-Party zu beobachten.

Musik als überlebensnotwendiges Ventil

Getanzt wird nicht nur in dieser umwerfenden, verschwitzten, sinnlichen Folge namens „Lovers Rock“, die zu den absoluten Bewegtbild-Höhepunkten 2020 gehört. Immer wieder wiegen sich auch in den anderen Filmen Charaktere im Groove von Reggae- und Rocksteady-Beats.

Menschen auf einer Tanzveranstaltung

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Die Musik, macht „Small Axe“ klar, ist für die afrokaribischen Londoner Einwohner*innen ein überlebensnotwendiges Ventil. Sie ermöglicht kurze Fluchtversuche aus einem Alltag, der von Benachteiligungen im Schulsystem, Diskriminierungen im Arbeitsalltag und vor allem brutalen polizeilichen Übergriffen dominiert wird.

Weil vor allem die letztere Thematik im Jahr allgegenwärtiger Black-Lives-Matter-Slogans topaktuell wirkt, scheint „Small Axe“ wie für die unmittelbare Gegenwart gemacht. Dabei spielen die fünf Episoden in einem Zeitraum von 1968 bis 1984. Steve McQueen erzählt Storys, die bislang im britischen Kino oder Fernsehen nicht vorgekommen sind, aus Gegenden wie Brixton oder Notting Hill. Ja genau, der Londoner Stadtteil, den viele mit einer gefälligen Erfolgskomödie assoziieren, war einst ein Zentrum schwarzer Einwanderer.

Pure Emotionen und Körperlichkeit

In „Mangrove“, einem über zweistündigen Film, der am Anfang der Anthologie steht, tauchen wir in diese historische Welt ein, vor allem in das gleichnamige Esslokal in Notting Hill, das der lokalen Community als Treffpunkt dient. Kurz macht uns Steve McQueen mit Stammbesucher*innen vertraut, lässt uns Konversationen belauschen und in Kochtöpfe blicken. Dann stürmen auch schon rassistische Polizisten das Mangrove. Zertrümmern Mobiliar. Attackieren die Anwesenden.

Menschen demonstrieren gegen rassistische Polizeigewalt

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McQueen mag ein extrem reflektierter Intellektueller sein, der bereits eine Karriere in der Bildenden Kunst hinter sich hat. Als Regisseur setzt er auf pure Emotionen und Körperlichkeit. Man möchte aufspringen und schreien, wenn der weiße Police Constable seinen Schlagstock zum Einsatz bringt. Vor allem auch, weil der Plot, wie die meisten Erzählstränge in „Small Axe“, auf wirklichen Ereignissen basiert. 1970 mündete eine Protestveranstaltung rund um das Mangrove in einem Konflikt mit der Polizei. Die zentralen schwarzen Verhafteten wurden in einem Gerichtsprozess mit hohen Strafen bedroht.

Steve McQueen rollt die Geschehnisse minutiös auf. Nach dem „Trial Of The Chicago 7“ von Aaron Sorkin lernen wir die „Mangrove 9“ kennen. Mit fantastischen unbekannten Gesichtern besetzt der Regisseur die Angeklagten, die großteils selber die messerscharfen Verteidigungsreden halten. Letitia Wright, die als leidenschaftliche Anführerin des britischen Black Panther Movement hervorsticht, kennt man allerdings aus einem namensgleichen Marvel-Blockbuster als Wakanda-Wissenschaftsgenie.

Menschen auf der Anklagebank

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Geschichte von Gängelei und Gewalt

Auch in der dritten Episode „Red, White and Blue“ fügt sich ein (britischer) Hollywood-Star perfekt ins Ensemble ein. „Star Wars“-Darsteller John Boyega, der bereits im Rassismus-Drama „Detroit“ brillierte, spielt die Hauptfigur Leroy Logan. Anfang der 80er entscheidet sich der junge Forensik-Student in den Polizeidienst einzutreten, noch so ein Skript nach einem wahren Fall.

Die 5 Episoden von „Small Axe“ kann man bei Amazon Prime kaufen. Leider ohne Untertitel, was angesichts der authentischen Slang-Sprache der Figuren nicht nachzuvollziehen ist. Und potentiell Interessierte vermutlich in die Illegalität treibt.

Der ungewöhnliche Grund für die Berufsentscheidung: Nachdem Leroys Vater von faschistoiden Police Officers krankenhausreif geschlagen wird, will der Sohn die Institution von innen verändern. Ein eigentlich unmögliches Anliegen, zeigt uns „Small Axe“ in quälenden Szenen. Beschmieren die weißen diensthabenden Kollegen am Anfang noch Leroys Spind mit dem N-Wort, überhören sie bald bewusst seinen Notruf bei einem gefährlichen Einsatz.

Mann in Polizeiuniform

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In einem Hollywood-Narrativ würde diese Geschichte von Gängelei und Gewalt wohl in einem befreienden Moment voller Pathos münden. In „Red, White and Blue“ muss John Boyega aber seine Gefühle hinunterschlucken. Dass der charismatische Akteur und Aktivist parallel zu den Dreharbeiten in London eine aufsehenerregende Rede bei einem Black-Lives-Matter-Event in London gehalten hat, schließt die Anthologie auf brisante Weise mit der Realität des Hier und Jetzt kurz.

Optimismus und Solidarität

„Small Axe“ ist voll von ähnlichen kämpferischen schwarzen Held*innen, die nicht aufgeben, auch wenn sie mit keinem Happy End belohnt werden. Manchmal feiert Steve McQueen aber durchaus den Durchhalte-Spirit seiner Figuren. „Alex Wheatle“, Folge vier, erweist sich als Biopic des gleichnamigen britischen Jugendbuchautors, der auch zum Schreiberteam von „Small Axe“ gehörte.

Der Film, der einen Bogen von der erschütternden Waisenhaus-Kindheit Wheatles und seiner Involvierung in den Brixton Riots anno 1981 bis zu seiner Schriftstellerlaufbahn spannt, zelebriert den Mut und die Kreativität des Protagonisten. Aber auch die Wichtigkeit der Community, ein in „Small Axe“ omnipräsenter Begriff, der auch schon mehrmals in diesem Text gefallen ist. „We“ sagen die afrokaribischen Londoner in ihrem spezifischen Slang, auch wenn sie „I“ meinen. Steve McQueen will nicht nur aufwühlen und brennende Diskurse anzetteln, sondern auch zu Optimismus inspirieren, macht er in Interviews klar.

Kinder in einer Schulklasse

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Im finalen Film „Education“ enthüllt er rassistische Praktiken im britischen Bildungssystem. Schwarze Kinder, vor allem Buben, wurden in den 80er Jahren in Sonderschulen transferiert, wenn sie zu lebendig, zu laut, zu auffällig waren. McQueen, der auf autobiografische Erfahrungen zurückgreift, lässt „Small Axe“ mit Szenen enden, die die Macht der Solidarität demonstrieren.

„A landmark moment for British film and television“ nennt das renommierte Magazin „Sight & Sound“ das Fernsehexperiment mit cinematischen Qualitäten. Ein filmisches Monument, ein Meilenstein, so kann man dieses Serienwunder voller Kino-Ambitionen wohl am besten auf den Punkt bringen.

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