Ächten, beschämen, löschen
Von Thomas Edlinger
2020 war natürlich das Jahr der realen Absagen, um an dieser Stelle das erste und letzte Mal über die Pandemie zu sprechen. Ein Jahr, in dem ein hartnäckige Virus der große Täter in Sachen Cancel Culture war und zunächst den Shutdown, also das Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens erzwang; später sprach man nur mehr vom Lockdown, also den Zwängen und Verordnungen, die das heruntergefahrene Leben sicherstellen sollten.
Das betraf alle, aber in unterschiedlicher Form: Während viele vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, hat sich das Vermögen der Supereichen weltweit weiter erhöht. Die us-amerikanischen Milliardäre sorgten allein für einen Zuwachs um eine Billion Dollar, der sich vor allem am Konto von Ikonen des digitalen Kapitalismus wie Elon Musk oder Jeff Bezos zeigte.
2020 war aber auch das Jahr, in dem Absagen und Absagen von Absagen immer häufiger zitiert wurden und auch hierzulande das Wort Cancel Culture alltagstauglich wurde. Gibt es eine ganze Kultur der Löschung? Existiert ein Mob und eine erpresserische Gesinnungsethik überhaupt oder ist die Cancel Culture bloß ein Kampfbegriff derer, die sich den Durchsetzungsansprüchen einer vielgestaltigen Kritik nicht beugen wollen? Der Anspruch auf Cancelung kann sich jedenfalls gegen alles Mögliche richten. Gegen starke Meinungen und schwache Distanzierungen, gegen große Kulturprodukte und kleine Nebensätze. Hauptsache dabei ist: Jemand kann andere davon überzeugen, dass der oder die oder das zu Cancelnde die Löschung auch wirklich verdient hat.
Im bedingungslosen Anspruch auf das Zum-Schweigen-Bringen oder Unsichtbarmachen liegt der feine Unterschied zur sogenannten Call-Out Culture, die durch öffentliche Beschämung eine Ächtung einer diskriminierenden, rassistischen, sexistischen oder verletzenden Position bzw. eine kritische Aufmerksamkeit zu erreichen versucht. Wobei es - siehe NS-Verbotsgesetz - durchaus gute Gründe geben kann, gegen das abstrakte Recht auf Free Speech nicht nur auf die Macht der Empörung, sondern auch auf das konkrete Verbot von hetzerischen Diskursen und Praktiken zu insistieren.
„Ich wurde insgesamt vielleicht 50 Mal gecancelt“
Das meint Milo Rau, der trotz oder eben gerade wegen seines Aneckens als einer der bedeutendsten und meistbeschäftigten Theaterregisseure der Gegenwart gilt. Rau begreift die Aufregung über die Cancel Culture als hysterischen Auswuchs eines medialen Meinungskampfs, der in repressiveren Zeiten schon mal mit Fäusten und Waffen ausgetragen oder mit Inhaftierungen stillgelegt wurde. Oder, darf man mit Blick auf die hysterische Kommunist*innenjagd im McCartyismus der 1950er Jahren ergänzen: mittels Berufsverbot.
Der Meinungskampf heute ist dagegen eine zahme Sache und findet immer wieder neue Spielstätten: von der immer neu hochköchelnden Debatte um die provokationsversessene Lisa Eckhart bis zum Streit um den Feminismusbegriff der Bestsellerautorin J.K Rowling oder dem Antisemitismusvorwurf gegen den Postkolonialismus-Vordenker Achille Mbembe. Oder ohne Namensnennung: Von den Boykott- und Sanktionsaufrufen der BDS-Bewegung gegen Israel und seine jüdischen Bewohnerinnen bis zur Ächtung von BDS-Sympathisantinnen und der selbst rasch mit redaktionsnahen Distanzierungen eingedeckten Sondernummer der deutschen Zeitschrift „Texte zur Kunst“ namens „Anti-Antisemitismus“ bis zu dem jüngsten Offenen Brief hochkarätiger deutscher Kulturinstitutionen, der ein Aufbrechen der Boykottspirale fordert - und nun selbst wieder in der Kritik steht.
Offene Briefe, Petitionen und Unterstützungserklärungen liefern der Ächtung einer Position einen sanktionierbaren Geltungsanspruch. Sie richten sich an einen institutionellen Rahmen. Ein Vortragender soll ausgeladen werden, eine Künstlerin nicht auftreten. Die anarchischere und unverbindlichere Form des Machtanspruchs findet sich bevorzugt im Netz, auf Twitter zum Beispiel. Wo der Meinungskampf tobt und das nächste Posting schnell rausgeballert ist, ist das - unabsichtliche oder absichtsvolle - Missverständnis nicht weit. Oder auch das Unverständnis über die Motive und Argumente der Position, über die man sich erregt. Milo Rau zählt seine Cancelbegründungen auf: „Ich wurde abwechselnd als Palästina- oder Israelunterstützer, unreflektierter Sexist oder Gendersternchenstalinist, nervender Moralapostel oder zynischer Subventionsvernichter dargestellt.“
Geschadet hat es ihm offenbar nicht. Im Gegenteil. Der lautstarke Wunsch, jemanden bitte endlich zum Schweigen zu bringen, kann sich in einer liberalen Öffentlichkeit zum Ausdruck der Brisanz dieser mit Unterdrückungs- und Zensurversuchen aufgewerteten Sprechposition verkehren. Das ist aber nur möglich, wenn eine mit Cancelung bedrohte Position eine gewichtige Stimme besitzt, die zur Not anderswo Gehör findet und Gegenmacht organisieren kann. Dann kann aus dem Schreckgespenst der Cancel Culture ein Distinktionsgewinn oder auch ein produktiver Streit werden. Die Milo Raus und Lisa Eckharts, so unterschiedlich ihre Haltungen auch sind, finden jedenfalls schon ihre Resonanz, auch wenn eine Institution sie einmal auslädt.
Oft genug aber ist eine stille Cancel Culture schon im Vorfeld am Werk. Sie bleibt oft unbemerkt und verhindert beispielsweise, dass Institutionen sich jenen öffnen, die keine oder unterrepräsentierte Stimmen besitzen – zum Beispiel jenen Unterprivilegierten aus dem globalen Süden, über die der global wirksame Philosophenstar Achille Mbembe schreibt. Das Weiße Haus hat immer schon Menschen ohne die richtige Lobbys und die entsprechenden Financiers auf dem Weg an die Macht gecancelt. Oder ein wenig tiefer gehängt: Wer früher in Österreich das falsche oder kein Parteibuch hatte, war auch schon schnell weg vom Fenster. Und wer heute mit dem „falschen“, migrantisch klingenden Namen nach einer Wohnung sucht, wird oft schon vor dem Besichtigungstermin von der Anwärter*innenliste gestrichen.
Thomas Edlinger Charts 2020
1. | Sault | Black Is & Rise | |
2. | Bruch | The Fool | |
3. | Perfume Genius | Set My Heart On Fire Immediately | |
4. | William Basinski | Lamentations | |
5. | Jerskin Fendrix | Winterreise | |
6. | Einstürzende Neubauten | Alles In Allem | |
7. | Yves Tumor | Heaven To A Tortured Mind | |
8. | Nazar | Guerilla | |
9. | Gil Scott Heron | We Are New Here /A Reimagining by Makaya Mc Craven | |
10. | Decolonize Your Mind Society | Courteous Invitation To An Uninhabitated Anabatic Prism |
Fritz Ostermayer Charts 2020
1. | Bruch | The Fool | |
2. | Sarah Mary Chadwick | Please Daddy | |
3. | Skyway Man | The World Only Ends When You Die | |
4. | Rocket Freudental | Erdenmenschen weggetreten | |
5. | Dehd | Flower Of Devotion | |
6. | Chester Watson | A Japanese Horror Film | |
7. | Jerskin Fendrix | Winterreise | |
8. | Lina & Raül Refree | same | |
9. | Perfume Genius | Set My Heart On Fire Immediately | |
10. | Liturgy | Origin Of The Alimonies |
Katharina Seidler Charts 2020
1. | Bruch | The Fool | |
2. | Rosa Anschütz | Votive | |
3. | Run The Jewels | RTJ4 | |
4. | Koenig | Messing | |
5. | Porridge Radio | Every Bad | |
6. | Johnny Batard | What do you want me to say? | |
7. | Arca | KiCk i | |
8. | Culk | Zerstreuen über euch | |
9. | Speaker Music | Black Nationalist Sonic Weaponry | |
10. | Postcards | The Good Soldier |
Publiziert am 27.12.2020