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Ende 2020: Visionär sein ist nicht leicht

Früher hat man uns beigebracht, unser Leben Jahre im Voraus zu planen. Jetzt kann man das nicht einmal mehr für eine Woche im Voraus machen.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

2020 war ein bemerkenswertes Jahr. Die Grenzen zwischen „normal“ und „nicht normal“ haben sich verschoben. Was bedeutet eigentlich „normal“? Normal ist, wenn man sich von den anderen nicht unterscheidet, das gleiche Wertesystem hat und man im Einklang mit der Gesellschaft denkt und kommuniziert. Wie an Laborratten hat man die „neue Normalität“ an uns ausgetestet.

Ich habe bisher immer versucht, so spontan wie möglich zu handeln. Zum Beispiel wollte ich meine Urlaube nicht länger als zehn Tage vorher planen. Man hat mich für einen unverbesserlichen Chaoten gehalten. Jetzt lache ich über alle, die ihren Urlaub vor zehn Monaten geplant haben. Wer sich vor zwei Jahren Karten für die Mailänder Scala gekauft hat, tut mir leid. Ich empfinde keine Schadenfreude, aber die neue Realität ist da und man muss sich daran gewöhnen. Worte wie „Visionär“ oder „Träumer“ verändern ihre Bedeutung.

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Bisher haben wir noch nie so viel über „das Ende“ gesprochen. Normalerweise verdrängt man die Gedanken an sämtliche Enden – das Ende einer Liebesbeziehung, das Ende der Ferien, an das Ende des Lebens sowieso. Wir glaubten, dass die Pandemie mit dem Frühling enden würde, danach wurde das Ende ans Ende des Sommers verlegt. Jetzt werden Impfstoffe das Ende bringen. Das Wort „Ende“ wird aber immer vorsichtiger in den Mund genommen, denn was ist, wenn das Ende nie kommt? Es ist eine unendliche Geschichte, die aber gar nicht märchenhaft ist. Am ehesten so etwas wie Hänsel und Gretel, wo Kinder alleine im dunklen Wald gelassen werden.

Vor einem Jahr haben nur Bankräuber Masken getragen. Wenn es so weitergeht, wird es keine Banken mehr zum Ausrauben geben, denn das Geld wird aus sein. Die Bankräuber müssen eine Gewerkschaft gründen, um sich vor Arbeitslosigkeit zu schützen. Meine Tochter, die ein Jahr alt ist, hat noch nie U-Bahnen ohne maskierte Menschen gesehen. Für sie gehört die Maske zum Alltag. Außer den Bankräubern werden es auch plastische Chirurgen schwer haben. Wer macht sich schon eine Nasen-OP, wenn niemand die Nase sehen kann?

Wir werden von Machtlosigkeit gewürgt. Die Machtlosigkeit macht Platz für Gleichgültigkeit. Die neue Realität ist da und wir müssen sie akzeptieren. Sicher ist aber, dass morgen das Jahr 2020 endet. Da man aber nichts langfristig planen kann, wage ich es nicht zu prophezeien, dass nach dem 31. Dezember der 1. Jänner kommen wird. Lächelt hinter euren Masken, liebe Leserinnen und Leser! Humor ist unsere einzige Rettung. So könnte man auch die neue Realität ertragen.

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