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Flight Cases mit Stickern, zB von einer Band auf Tour

Flickr / Stephen Duros Photos / CC BY-SA 2.0

ROBERT ROTIFER

Unter den Bandbus geworfen

Der britischen Musikszene droht das wirklich böse Erwachen erst, wenn Corona schon vorbei ist. Der Brexit bringt finanzielle und bürokratische Hürden, die kleine bis mittlere Acts künftig vom Rest Europas auszusperren drohen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Was soll ich sagen, London hat gerade einen "major incident“ ausgerufen, weil die vor Corona-Kranken überfüllten Spitäler noch ein Drittel voller sind als zum Höhepunkt der ersten Welle im April, und bei mir unten in der englischen Einschicht sieht es nicht anders aus (Einen dritten, zugelassenen Impfstoff gibt’s bei uns seit heute übrigens auch, nur dass keine*r behauptet, ich ignoriere gute Nachrichten).

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Put it this way: Die Leute haben gerade genug andere Sorgen als die Leiden der Musikszene, ihr ja genauso, und trotzdem: Unter der Deckung all dieser existenziellen Dinge und natürlich auch des Wahnsinns in Washington, schleicht sich da eine für alle, die sich irgendwie für Popmusik von dieser eigenwilligen Insel interessieren, ziemlich weltverändernde Katastrophe an.

Seit Ende letzten Jahres kursiert eine Petition an das britische Unterhaus. Immerhin rund 228.000 haben sie unterschrieben. Darin steht: „Wir wollen, dass die britische Regierung eine gratis Arbeitserlaubnis für kulturelle Arbeit ausverhandelt, die tourenden Musikprofis, Bands, Musiker*innen, Künstler*innen, Berühmtheiten aus Fernsehen und Sport visafreies Reisen durch die 27 EU-Staaten erlaubt, um dort bei Shows und Events aufzutreten. Und eine Ausnahme für Zollcarnets für Ausrüstung zum Touren.“

Ich gebe zu, es gab schon schmissiger formulierte Forderungen, aber um diese gedörrte Wortwurst einmal auf ihre FM4-relevante Bedeutung herunter zu brechen: Es geht im Grunde schlicht und erschütternd darum, ob ihr in Zukunft, „wenn das alles einmal vorbei ist“, noch die Sorte von britischen Acts, um die es in unserem feinen Nischensender geht, in eurer Umgebung live spielen sehen könnt.

Denn wie in vorangegangenen Kolumnen bereits angeklungen, enthält der Brexit-Deal keine Ausnahmeregelungen für fahrende Musiker*innen und ihre Entourage, geschweige denn die Instrumente und die Merch (Platten, T-Shirts..), die sie mit sich führen.

Coverbild: CC BY-SA 2.0

Ohne euch mit Details zu langweilen: Britische Musikarbeiter*innen werden ab diesem Jahr für jedes EU-Land, das sie besuchen, Arbeitsvisa erstehen, bei Ein- und Ausfuhr detaillierte Zollerklärungen für ihr gesamtes Equipment abgeben und die Mehrwertsteuer für alles, was sie nach dem Gig verkaufen, an die jeweiligen Steuerbehörden abführen müssen (vermutlich auch einer der Gründe, warum etwa der Postverkehr zwischen Österreich und Großbritannien immer noch nicht funktioniert, ein Desaster für Bandcamp, Discogs, Vertriebe, Bemusterung, das wohl noch eine eigene Kolumne wert sein wird).

Die dabei entstehenden Mehrkosten und der administrative Aufwand werden das Nullsummengeschäft einer Europa-Tour in einen für die meisten Acts unerschwinglichen Verlust verwandeln. Selbst der für britische Acts überlebenswichtige, europäische Festival-Markt (der übliche Trick, eine Tour rund um einen lukrativen Festival-Auftritt zu bauen) wird diese Kosten nicht aufwiegen können.

„Europe is our Playground“, sangen Suede vor einem Vierteljahrhundert, und so war es auch immer schon für britische Bands, sprich seit die Beatles auf ein paar Wochen zum Gastspiel nach Hamburg fuhren. Der Export britischer Musik aufs europäische Festland - lange eine Einbahnstraße, in den letzten Jahrzehnten zunehmend wechselseitig – hatte einen unglaublich befruchtenden Wert für die dortigen Szenen. Das Problem an solchen Selbstverständlichkeiten ist aber, dass man sie so lange für äh... selbstverständlich nimmt, bis sie verschwunden sind.

Das Problem an der oben zitierten, gutgemeinten Petition ist wiederum, dass sie tragisch zu spät kommt. Denn die Verhandlungen mit der EU sind, wie wir wissen, für’s Erste vorbei. Die britischen Verhandler*innen haben ihre Musiker*innen, wie es so schön auf englisch heißt, „unter den Bus geworfen.“ Und ironischerweise war die anhaltende Existenzbedrohung Corona auch einer der Gründe, warum den meisten britischen Musiker*innen die zweite Existenzbedrohung Brexit erst jetzt so langsam in ihrer ganzen Tragweite bewusst wird.

Saxophonist Pete Fraser

Pete Fraser

„Wenn du heute zu einer britischen Musikerin sagst: ‚Es wird wirklich schwer für dich sein, in Europa zu touren‘, dann wird sie dir instinktiv antworten: Ich hab schon ein Jahr lang nicht in meinem eigenen Land live gespielt, geschweige denn irgendwo sonst.’ Ich glaube, es ist schwer für die Leute, sich das zu vergegenwärtigen, weil die Dinge sowieso schon so grässlich sind.“

So sprach Pete Fraser, ein aus London kommender Saxophonist, als ich ihn gestern in seiner schwedischen Wahlheimat erreichte. Pete ist weit genug entfernt von der Alles-wird-gut-Propaganda der britischen Öffentlichkeit, um das Problem kommen gesehen zu haben. In normalen Zeiten tourt er mit Bands verschiedenster Formate, von Field Music über Mary Epworth bis zu den Pogues.

Seit heuer hat er dabei einen entscheidenden Vorteil gegenüber seiner im UK lebenden Kolleg*innenschaft: Seine schwedisch-britische Doppelstaatsbürgerschaft, die ihm auf beiden Seiten des Kanals das Arbeitsvisum ersparen wird. Aber selbst das wird ihm kaum helfen, wenn die britischen Bands, bei denen er als erschwinglicher, idealistischer Profi-Bläser mitfährt, gar nicht mehr vorbeikommen sollten: „Wenn man sich die Margen von Europa-Tourneen ansieht, ist es lachhaft, zu glauben, dass das mit zusätzlichen Kosten noch machbar sein wird“, sagt Pete, „Und das wird natürlich auf Kosten britischer Musiker*innen gehen. Denn sie werden durch Musiker*innen vom europäischen Festland ersetzt werden.“

Pete spricht aus Erfahrung. Er ist es längst gewohnt, wegen der hohen Visumkosten nicht mehr auf Amerika- oder Japan-Touren mitgenommen zu werden: „Wenn du in diesem Geschäft auch nur einen Penny teurer bist als eine leichtere Alternative, dann bist du deinen Job los.“

Am härtesten betroffen werden am Ende aber wohl weder die Bands, noch Session-Musiker wie Pete, sondern sozusagen die Working Class des von Großbritannien aus europaweit operierenden Live-Geschehens sein: „Die ersten Leute, an die ich denke, wenn ich von diesen Dingen lese, sind nicht Musiker*innen", meint Pete Fraser, "sondern die Leute, die die Busse fahren, die Roadies, Licht- und die Tontechnik*innen. Die können nicht vom Heimstudio aus ihre Jobs erledigen, und sie sind abhängig davon, dass alles groß und international ist. Es gibt bestimmte Dinge, die sich nicht auf den heimischen Markt herunter schrumpfen lassen. Diese Leute sind weiß Gott wie oft durch den Eurotunnel gefahren. Das ist ihr Job.“

Und ja, bevor ihr das eurem Bildschirm entgegen brüllt: Einige jener stiernackigen Typen mit Sonnenbrand, Army-Shorts und Multi-Tool am Gürtel, die ihr bei Festivals die fetten Flight Cases rollen seht, haben wohl selbst für den Brexit gestimmt. Es ist eine harte Lektion: Nationaler Übermut geht oft nach hinten los. Verlieren werden wir dabei aber alle, natürlich auch einschließlich der vielen Festland-Bands, die in den letzten Jahren hier drüben bei uns gespielt haben.

Ein Hoffnungsschimmer: Wie meine anglo-französische Freundin Marie Rémy vom Cornershop-Label Ample Play Records mir heute per Twitter ausgerichtet hat, hat Frankreichs Regierung einseitig britischen Künstler*innen eine 90-tägige Ausnahme-Arbeitserlaubnis erteilt. Wenn andere EU-Länder wie das eure da nachziehen, würde sich die Petition an das unbelehrbare britische Unterhaus noch weitgehend hinfällig machen lassen (das Problem der Verzollung der Instrumente bleibt bestehen).

Und weil mir gerade ein geifernder, kleiner Roger Daltrey über die Schulter schaut und sagt: „Als ob wir vor der EU nicht schon in Europa getourt wären!“ Das mag wohl sein, aber die britische Popmusik ist heute in Europa längst nicht mehr so dominant wie damals in den Sixties, als die coolsten Clubs des Kontinents Berge versetzten, um allen Formalitäten zum Trotz angesagte Londoner Bands wie die seine zu buchen (weiß nicht, wie das bei The Who war, aber ihre Kollegen von den Stones hatten damals einen allein reisenden Handlanger, der die Gagen im Handkoffer zurück nach Großbritannien brachte).

Davon abgesehen, galten diese Hürden damals für alle. Heute dagegen können Acts aus den verbliebenen 27 EU-Staaten, sowie den dem Wirtschaftsraum angeschlossenen Ländern wie der Schweiz und Norwegen, nach wie vor behinderungslos touren, einzig die Brit*innen nicht. Die Hipster-Lokale und kleinen Hallen der EU werden sich – so hart das klingt – auch ohne britische Acts füllen lassen.

Die kulturelle Verarmung, die das auf beiden Seiten des Kanals anrichten wird, lässt sich allerdings noch kaum ermessen.

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