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„The Five“: 130 Jahre nach den Morden ist Jack the Rippers Opfern ein Buch gewidmet

1888 tötet ein Unbekannter mindestens fünf Frauen im Londoner Stadtteil Whitechapel. Die Historikerin Hallie Rubenhold rekonstruiert in „The Five“ die Leben dieser Frauen. In fünf Biografien beleuchtet Rubenhold Londons Arbeiterschicht, kritisiert die Werthaltungen der viktorianischen Gesellschaft und räumt mit Mythen auf.

Von Lena Raffetseder

„Jack the Ripper“-Walking Touren an die Tatorte, ein Museum, das den Morden gewidmet ist, hunderte Bücher, Filme und Serien, die sich mit dem Frauenmörder befassen. Für die Historikerin Hallie Rubenhold ist all das zu viel Mythos. Sie hat die Biografien von fünf Frauen - Polly Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddows und Mary Jane Kelly - recherchiert und rekonstruiert. Ausgeklammert hat sie nur deren Tod.

Frauen der Arbeiterschicht im viktorianischen England

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts leben britische Frauen der Arbeiterschicht mit ihren Familien auf engstem Raum, Privatsphäre ist ein Luxus. Mädchen gehen nur wenige Jahre in die Schule, erziehen ihre jüngeren Geschwister und tragen frühestmöglich zum Haushaltseinkommen bei. Sie heiraten und sind auf das Einkommen ihres Ehemannes angewiesen, um die eigenen Kinder zu ernähren. Geburtenkontrolle gibt es nicht und ständig sind sie mit Kindstod, Krankheit und Hunger konfrontiert.

Cover von "The Five"

Verlag Nagel & Kimche

„The Five“ (448 S.) von Hallie Rubenhold ist von Susanne Höbel ins Deutsche übersetzt worden und bei Nagel & Kimche erschienen.

Die Biografien der fünf Frauen verlaufen ähnlich - an einem Punkt verlassen sie ihre Männer oder werden verlassen. Neben Armut und Obdachlosigkeit sind es dann auch Wertvorstellungen der viktorianischen Gesellschaft, die den Frauen zu schaffen machen.

„Obwohl Trennung in der Arbeiterschicht nicht ungewöhnlich war, bedeutete sie für die Frau das Ende ihrer angesehenen Stellung innerhalb der ‚moralisch gesinnten‘ Gemeinschaft. Die Schuldfrage spielte keine Rolle. Verließ eine Frau ihren Mann, war es ihre Schuld.“

Es war für Frauen nicht leicht, aus einer Ehe auszusteigen und in den traditionellen Arbeitsbereichen für Frauen - als Hausangestellte, Wäscherin oder Näherin - konnten sie kaum genug für den eigenen Lebensunterhalt verdienen. Die porträtierten Frauen gingen deshalb in Armenhäusern ein und aus. Reichte das Geld nicht für ein Bett, mussten sie wie hunderte andere auf der Straße übernachten.

Rekonstruktion aus Akten, Aussagen und Artikeln

Das erklärt, warum die fünf Frauen – bis auf Mary Jane Kelly – in der Nacht im Freien ermordet wurden. Und nicht, wie seit dem späten 19. Jahrhundert oft wiederholt wurde, weil sie als Prostituierte gerade ihrer Arbeit nachgingen. Historikerin Rubenhold hat Bücher über Prostitution im England des 18. Jahrhundert geschrieben und wollte sich für „The Five“ mit den bekanntesten Prostituierten des 19. Jahrhunderts befassen – den Opfern von „Jack the Ripper“. In ihren Recherchen fand Rubenhold aber bei drei der fünf Frauen keine Hinweise dafür, dass sie als Prostituierte gearbeitet hätten.

Rubenhold hat in öffentlichen Dokumenten und Gerichtsakten recherchiert, sie bezieht sich auf Schilderungen von Sozialforschenden und Autor*innen von damals und zitiert Gesetze aus dem 19. Jahrhundert. Rubenhold ordnet ein und versucht, die Handlungen der Frauen für Lesende nachvollziehbar zu machen. Die Morde schildert die Historikerin nicht.

Denn es geht Rubenhold darum, die Wege der Frauen nachzuzeichnen. Durch die Biografien von Polly, Annie, Elizabeth, Catherine und Mary Jane wird klar, warum sie ihre Männer verlassen haben, welches Trauma sie mit Alkohol vergessen wollten, welche Krankheit sie davon abgehalten hat, zu arbeiten. Sie hatten zwar nicht denselben Beruf, aber alle fünf galten als „unmoralische“ Frauen und hatten kaum Geld. Am Ende jeder Rekonstruktion wird klar, warum sie im Herbst 1888 auf der Straße übernachten mussten.

Autorin Rubenhold hält sich nicht zurück

Rubenhold ist keine neutrale Erzählerin und ist seit der Veröffentlichung von „The Five“ mit Anfeindungen konfrontiert. Sie kritisiert die Vorstellungen der damaligen Gesellschaft, die den Blickwinkel auf die Opfer bestimmte und weiterhin bestimmt. Sie kritisiert die Rolle der Medien und die voyeuristischen Schilderungen in Zeitungen. Vor allem aber kritisiert Rubenhold, dass die Morde und die Ermittlungen den Charakter der Frauen untersuchen wollten und so die Schuld bei den Opfern gesucht wurde. Und damit schlägt Rubenhold die Brücke in die Gegenwart.

„Der Kern der Geschichte von Jack the Ripper ist die eines Mörders mit einem tief sitzenden, fest verankerten Hass gegen Frauen, und mit unserer kulturell konditionierten Faszination für diesen Mythos tragen wir dazu bei, Misogynie für normal zu erklären.“

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