Neo-Noir aus China: „Der See der wilden Gänse“
Von Christian Fuchs
Gleich das allererste Bild prägt sich ein. Regen prasselt auf einen einsamen Bahnhofs-Vorplatz herab, alles ist in gelbes Neonlicht getaucht, mittendrin steht ein junger Mann an eine Säule gelehnt. Ein Gangster auf der Flucht, nicht nur vor der Polizei. Nach einem Motorradduell mit mörderischem Ausgang ist ihm auch eine rivalisierende Bande auf den Fersen.
Die Geschichte eines wortkargen Gangster-on-the-run wurde schon oft erzählt, in nihilistischen amerikanischen Thrillern, aber auch in kühlen Krimis aus Frankreich oder Korea. Zuletzt hat der dänische Regisseur Nicolas Winding Refn in seinen US-Produktionen das Neo-Noir-Genre an einen Endpunkt getrieben. Seine Miniserie „Too Old To Die Young“ präsentiert bewusst nur mehr blutverschmierte Tableaus der Erstarrung.
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Der chinesische Regisseur Diao Yinan macht weitaus bodenständigere Filme, die im wirklichen Leben verankert sind. Aber auch er verzichtet nicht auf dazugehörige Genremuster. In seinem düsteren Berlinale-Gewinnerstreifen „Feuerwerk am helllichten Tage“ (Black Coal, Thin Ice, 2914) gibt es den prototypischen Noir-Polizisten, den eine vergebliche Mördersuche langsam in den Abgrund treibt.
Eine faszinierende Welt der Kontraste
In Yinans Nachfolgefilm „Der See der wilden Gänse“ („The Wild Goose Lake“), veröffentlicht 2019, wimmelt es scheinbar vor stereotypen Figuren. Eine geheimnisvolle Prostituierte, mürrische Cops, verschlagene Auftragskiller tauchen auf. Und mittendrin ein gut aussehender, lakonischer Antiheld (gespielt vom Popsänger Hu Ge) mit Zigarette im Mundwinkel.
Das mag sich im ersten Moment unoriginell anhören, aber „The Wild Goose Lake“ ist einer der aufregendsten Filme des Vorjahrs, der es dann doch nicht in die österreichischen Kinos geschafft hat - und jetzt erst via BluRay und DVD verfügbar ist.
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Diao Yinan baut sich aus den Noir-Versatzstücken ein ganz eigenes Universum, eine faszinierende Welt der Kontraste. Hypnotische Langsamkeit und brutale Gewalteinschübe treffen aufeinander, trostlose Szenarien werden in grelle Farben getaucht. Das Tollste ist aber, dass der Film trotz extremer Stilisierung vom echten, wahren Alltag im China der Gegenwart erzählt.
Gefilmt in den engen Gassen, Lokalen und Märkten von Wuhan, bevor die Stadt von Corona gebrandmarkt wurde, spürt man die Atmosphäre der Millionenmetropole in jeder Einstellung. Die Jagd der diversen Gegenspieler nach dem untergetauchten Gangster führt uns in Wohnungen, Bars, Fabrikshallen, auf öffentliche Plätze, wir sehen den Müll, den Schmutz, die Tristesse des Arbeiterklasse-Alltags.
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Und dann zeigt uns Diao Yinan plötzlich Menschen, die in ihrer Freizeit kollektiv zum alten deutschen Disco-Hit „Dschinghis Khan“ tanzen. Bis mitten in dem seltsam idyllisch wirkenden Szenario eine Schießerei ausbricht. Lachen, Trauer, Gewalt lösen sich in einer einzig, mitreißend choreografierten Einstellung ab. Szenen wie diese machen „The Wild Goose Lake“ zu einem Pflichtfilm für Fans von ungewöhnlichem, aufregenden Krimikino.
Publiziert am 13.01.2021