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Viagra Boys 2020

Fredrik Bengtsson

Abriss zwischen Selbstreflexion und Country-Vibes mit den Viagra Boys

Viagra Boys sind auf ihrem zweiten Album „Welfare Jazz“ bereit, mit Ehrlichkeit und Wahnsinn unsere Gehörgänge durchzuputzen. Im FM4-Interview spricht Frontman Sebastian Murphy über Selbstreflexion, sein toxisches Alter-Ego, über Country-Musik und was ein gutes Cover ausmacht.

Von Michaela Pichler

Wo sich Abriss und Ekstase zu rotzigem Post-Punk und abgebrühter Fuck-You-Attitüde vermischen, da sind die Viagra Boys nicht weit: Seit 2015 treten die Stockholmer Musiker Sebastian Murphy, Benjamin Vallé, Oskar Carls, Henrik Höckert und Tor Sjödén unter besagtem Namen auf, 2018 erschien mit „Street Worms“ ihr gefeiertes Debütalbum. Seitdem waren Viagra Boys umtriebig, sie haben Festivals zerlegt und sich durch verschwitzte Kellerlokale gespielt, oft verglichen mit dem großen Iggy Pop, von dem sich Frontman Sebastian Murphy wohl einiges abgeschaut hat. Mit dabei auch immer ein herrlich dreckiges Saxophon, das zum stampfenden Beat dröhnt. Darüber gestreut wird eine Prise Sozialkritik, laut sein gegen Rassismus, Sexismus und Klassismus, oft im Tarnmantel der Satire versteckt, aber immer da. Viagra Boys haben mit dieser explosiven Mischung eine Lücke gefüllt im europäischen Rock-Geschehen, von der viele nicht mal wussten, dass sie unbedingt gefüllt werden muss. 2021 sind sie bereit, mit ihrem zweiten Album nachzulegen.

Viagra Boys - Welfare Jazz

Viagra Boys

„Welfare Jazz“ ist das zweite Album der Viagra Boys und ist am 9. Jänner 2021 via YEAR0001 erschienen.

50% Ehrlichkeit, 50% Wahnsinn

Schon allein der Albumtitel ist ein Witz. „Welfare Jazz“ lautet der Name fürs Zweitlingswerk, eine Anspielung auf schwedische Musiksubventionen: „In Schweden sagt man sich, dass die einzigen Musiker*innen, die Geld vom Staat bekommen, Freejazz-Artists sind. Denn die bekommen ja keine Gigs, niemand will sich das anschauen“, lacht Viagra-Boys-Kopf Sebastian Murphy im Interview. Er selbst ist auch auf solchen Free-Jazz-Platten von Freunden zu hören, für Selbstironie hatte der Sänger und Songwriter immer schon ein Händchen. Das zweite Album wurde als Trennungs-Werk angekündigt. Aber nicht einfach nur als emotionale Verarbeitung mit dem Aus einer Beziehung. „Es war eine Trennung von einem Lebensstil. Ich hatte sehr viel Verachtung und Selbsthass gegenüber meinem Leben, wie ich es die Jahre davor gelebt habe. Und das jetzt markiert eine Veränderung.“

Für die Songs auf „Welfare Jazz“ hat sich Sebastian Murphy selbst an die toxische Nase gefasst und sein (selbst)-zerstörerisches Alter-Ego unter die Lupe genommen. Hörbar ist das zum Beispiel gleich in der ersten Single-Auskoppelung „Ain’t Nice“ - auf den ersten Blick eine Persiflage auf toxische Männlichkeiten, wie es Viagra Boys auch schon auf ihrem Debüt mit Songs wie „Sports“ perfektioniert haben. Für Sebastian Murphy ist es aber einfach nur eine Schilderung der eigenen Zustände vor seiner großen Veränderung. „Vor ein paar Jahren habe ich mit einer Frau zusammengelebt, ich habe jeden Tag Speed genommen und bin zu einem Hamsterer geworden. Also habe ich ihre ganze Wohnung mit elektronischem Zeug und Sachen, die ich gesammelt habe, zugemüllt.“ Mit einer Taschenrechner-Sammlung zum Beispiel, traut man den Lyrics in „Ain’t Nice“. Der King-of-Texas-Instruments verwandelt mit seinen Viagra Boys diese groteske Szenerie in einen druckvollen Deliriumtanz. Im Musikvideo wird durch die Straßen Stockholms gepöbelt, mit Tschick im Mundwinkel, Feinripp-Unterhemd und Jogginghose inklusive.

Was die Viagra Boys mit ihrer Musik und ihrem Auftreten immer wieder propagieren, ist auch das Geheimrezept hinter „Welfare Jazz“. Auf ihren Social-Media-Kanälen haben die Schweden dies auf die einfache Formel „zu gleichen Teilen Ehrlichkeit, zu gleichen Teilen Wahnsinn“ herunter gebrochen. So zimmert sich die Band auf der nächsten Single „Creatures“ eine Unterwasserwelt, die irgendwie als Dystopie fungiert und einem den Atem abschneidet. Eine 80’s-inspirierte Synthesizer-Hook und ein bisschen 4-to-the-Floor laden zum gediegenen Mitstampfen ein. Viagra Boys vermissen die Clubs dieser Welt momentan aber gar nicht: „Ich habe früher so viel gefeiert, dass ich es jetzt nur noch verdammt leid bin. Aber ich supporte tanzen! Nur ich selbst hab einfach damit abgeschlossen“, lacht Sebastian Murphy im Interview.

Das perfekte Cover

Die Perlen auf „Welfare Jazz“ sind aber nicht die Club-Nummern. Musikalisch gibt es da ganz andere Vorbilder, ganz andere Pfade, die die Zuhörer*innen nach Übersee führen, Nashville, Tennessee. Auf dem aktuellen Werk versteckt sich als letzte Nummer ein Coversong: „In Spite of Ourselves“ wurde 1999 von dem US-amerikanischen Country-Sänger John Prine als Duett veröffentlicht. Als Sebastian Murphy die Nummer entdeckt, fühlt sie sich absolut richtig an für „Welfare Jazz“. „Normalerweise finde ich Coversongs nicht gut. Vor allem, wenn es ein Song ist, den eine andere Person schon so gut gemacht hat. Dann musst du nicht auch noch du ein verdammtes Cover daraus machen. Ich weiß nicht, was einen guten Coversong ausmacht, aber ich glaube, wenn der Song auf einmal nach deinem eigenen klingt.“ Viagra Boys eignen sich den White-Trash-Lovesong auf ihre ganz eigene Art an, schnappen sich die australische Punk-Sängerin und Freundin Amy Taylor (Amyl and the Sniffers) und sorgen für einen akustischen Meisterstreich.

Die schneidend-flirrende E-Gitarre flüstert einem vom nagenden Fernweh, man möchte nur noch ins nächste Auto steigen und Richtung Horizont flüchten. Das dürfte wohl auch im Interesse von den Viagra Boys sein. Ihre Musik eignet sich perfekt für den nächsten Roadtrip, die Musiker selbst hören ihre Songs - vor allem die älteren - am liebsten im Auto. Dahinfetzen durch eine staubige Wüste, auf der Route 66 oder irgendeiner anderen mystischen Strecke: Das wird auch auf dem geheimen Lieblingsstück von Sebastian Murphy gepredigt. „Toad“ ist ein Fiebertraum, der irgendwie nach The Doors auf Speed klingt, und eine uralte Country-Sehnsucht in sich trägt. „Der Song verkörpert diese Country-hafte Denkweise, seinen Problemen zu entkommen; wenn du alles versaut hast in einer Stadt, dann haust du einfach in die nächste ab und versaust dort alles wieder von vorne.“

„Welfare Jazz“ ist ein weitere Wucht an Exzess, Energie und Ausbruch, den es hoffentlich auch bald auf den Bühnen dieser Welt zum Erleben geben wird. Die Erwartungshaltung bei den Fans war auf jeden Fall schon groß, nach dem Debüt-Erfolg. So fragte ein Fan auf Instagram, ob denn das neue Album uns alle heilen und retten würde - Viagra Boys zitieren für ihre Antwort niemand geringeren als David Bowie: „Wer hat irgendetwas von Heilung gesagt? Das ist wie Feuer mit Benzin zu löschen.“

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