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Kinder im schlammigen Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos

APA/AFP/Anthi PAZIANOU

Kinderpsychiaterinnen auf Lesbos: „Hoffnung ist der größte Heilungseffekt“

Fehlende Heizmöglichkeiten, Nässe und verdorbenes Essen: Im Flüchtlingslager Kara Tepe herrschen katastrophale Zustände. Nicht nur Erwachsene, sondern auch die rund 2.500 Kinder im Lager leiden zunehmend unter schweren Depressionen, Panikattacken und Angststörungen. Von Soforthilfe vor Ort ist hier keine Spur.

Von Melissa Erhardt

Seitdem Moria, das größte Flüchtlingslager Europas, letzten September abgebrannt ist, ist es relativ still geworden um Lesbos. Moria gibt es seit dem Brand nicht mehr. Die Menschen, die dort auf ihrem Weg nach Europa stecken geblieben sind, leben jetzt in Kara Tepe 2, einem ehemaligen Schießplatz direkt an der Küste, etwa drei Kilometer weiter südlich von Moria. Von weit weg sähe es aus wie ein Camping-Lager am Meer, sagt Sabine Sommerhuber, Psychotherapeutin und Vorstandsmitglied der NGO Unser Bruck hilft, die seit Jahren in der Flüchtlingsbetreuung tätig ist. Nur ist es eben nicht mehr Sommer: „Das Meer ist aufgepeitscht, es ist kalt, es schneit“

Heizmöglichkeiten gibt es in den Zelten nicht. Die Stromversorgung sei angeblich noch im Aufbau, vereinzelt gibt es Generatoren, aber die Zelte bleiben dennoch nass, kalt und eng: „In einem Zelt, wo es eine österreichische Familie, die auf Urlaub fährt, schon eng hat, leben hier zwei afghanische oder syrische Familien zusammen“. Duschmöglichkeiten sind kaum vorhanden, die meisten Menschen – so erzählen es Sommerhuber und ihre Kolleginnen – haben sich bis vor kurzem noch im Meer gewaschen. Die von der österreichischen Regierung versprochene Soforthilfe ist nie in Kara Tepe angekommen. Die beheizbaren Container stehen weiterhin am Festland in Athen. Wie man sie nach Lesbos bringen kann, weiß keiner so genau. „Darüber hat sich in Wien niemand Gedanken gemacht“.

Kinder im schlammigen Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos

APA/AFP/Anthi PAZIANOU

Bilder aus dem Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos vom 19. Dezember 2020

Psychisch am Ende

Zusammen mit den Kinderpsychiaterinnen Birgit Ulla Wurm und Michaela Fried von der niederösterreichischen NGO Bridges for Hope and Peace ist Sommerhuber ehrenamtlich nach Lesbos geflogen, um in Kooperation mit Medical Volunteers International im „Mental Health Kids Program“ zu arbeiten. Dort beraten sie Eltern, deren Kinder mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Mit den Kindern direkt sprechen sie, wie andere Freiwillige, die länger bleiben, nicht, weil sie nur zwei Wochen auf Lesbos sind. Die Kinder würden eine Bindung mit ihnen eingehen, worauf ein harter Kontaktabbruch folgen würde. Das wolle man vermeiden.

„Die Eltern kommen mit ganz konkreten Fragen zu uns. Das sind Themen, die sich bei den Familien im Lager oftmals wiederholen: Kleine Kinder nässen ein, haben Alpträume und schlafwandeln. Viel davon hat nach dem Brand in Moria begonnen. Das hat mit Gewalt zu tun, die im Lager herrscht, und einem Gefühl von Unsicherheit“, erzählt Birgit Wurm. Auf Facebook erzählen sie das Beispiel einer Mutter, die ihnen schildert, dass ihr Kind plötzlich umfalle und wie bewusstlos vor Angst sei, wenn es laute Männerstimen höre: "Der Schutz von Kindern vor Gewalt ist das wichtigste Versprechen der Kinderrechtskonvention. Wir können bezeugen, dass dieses Recht im Flüchtlingslager tagtäglich an 2.300 Kindern gebrochen wird.“ Viele Mütter würden im Lager depressiv werden und könnten die Probleme der Kinder nicht mehr aushalten, so Birgit Wurm: „Die Kinder können dann den Zuspruch und Halt nicht mehr bekommen, den sie eigentlich bräuchten, weil die Eltern ihn nicht mehr geben können“.

Kinderzeichnung

B4HP

Ergebnisse von Gruppenarbeiten mit Kindern aus dem Camp

Alpträume und Panikattacken

Außerdem gäbe es keine Trennung mehr zwischen einer sorglosen Kinder- und Erwachsenenwelt, erklärt Michaela Fried, Kinderpsychiaterin und B4HP Programmkoordinatorin in Gaza : „Wir haben in Österreich eine Vorstellung, dass es Elterngespräche gibt, wo Kinder nicht zuhören. Auf Lesbos halten die Wände im Zelt nichts fern. Kinder kriegen mit, dass einige Zelte weiter ein Mädchen missbraucht wurde, die kriegen mit, dass es Messerstechereien gegeben hat, die kriegen mit, dass die Mama weint und oft ist es so, dass ein 8-jähriger Bub seine Eltern tröstet“. Die Alpträume der Kinder gingen teilweise soweit, dass Eltern ihre Kinder in der Nacht festbinden müssten, damit sie nicht weglaufen. Die Freiwilligen setzen in ihrem Programm auf Beschäftigung, um die Kinder zu stabilisieren. Sie versuchen ihnen Skills beizubringen, um die eigene Angst zu bewältigen, denn Panikattacken sind sehr häufig.

„Kinder kriegen mit, dass einige Zelte weiter ein Mädchen missbraucht wurde, die kriegen mit, dass es Messerstechereien gegeben hat, die kriegen mit, dass die Mama weint“

Das Areal „One Happy Family“, wo sich das Mental Health Kids Program befindet, ist etwas außerhalb des Lagers. Einmal pro Woche dürfen die Menschen das Flüchtlingslager verlassen, um etwa an dem Programm teilzunehmen. Die Regelung ist Teil der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, die seit letztem Jahr ständig verschärft und von der Polizei streng kontrolliert werden. „Für die Menschen, die hier leben, ist Corona allerdings nie ein Thema in unseren Gesprächen. Verglichen mit den Sorgen, die sie haben, ist es unwichtig“, so Michaela Fried.

Kinder im schlammigen Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos

APA/AFP/Anthi PAZIANOU

Kochverbote und verdorbenes Essen

Ins Lager selbst darf niemand von außerhalb hinein, weder Presse, noch Rechtsanwälte, noch NGOs – mit einer Ausnahme. Denn seit Moria abgebrannt ist, darf in den Lagern nicht mehr gekocht werden. Das Essen wird vom Militär in Athen geliefert, ist aber laut einigen Bewohner*innen oft bereits verdorben, wenn es ankommt. Deswegen kochen ein griechisches Ehepaar, Nikos und Katerina, seit einiger Zeit täglich etwa 1.200 Mahlzeiten, die sie ins Lager bringen. Ihre NGO Home for All ist die einzige, die von der Polizei ins Lager gelassen wird. Michaela Fried sieht das Kochverbot als äußerst kritisch:

„Aus psychodynamischer Sicht ist es das allerwichtigste, dass wenn du nichts mehr hast, du wenigstens noch einen Geruch hast an deine Heimat, ein Gewürz, Reis, irgendwas.“

Generell war das Lager in Moria, trotz der Umstände, laut den Bewohner*innen noch besser organisiert, als es jetzt in Kara Tepe der Fall ist. Das liegt einerseits an Corona, andererseits haben die Menschen in Kara Tepe das Gefühl, dass sie kollektiv bestraft werden würden. Für die Kinder gäbe es nun gar nichts mehr, weder Schulen, noch sonstige Ablenkung - etwa einen Spielplatz.

Während Michaela Fried keine Hoffnung auf eine baldige Besserung der Lage sieht, ist Sabine Sommerhuber etwas optimistischer: „Aus der Psychotherapieforschung wissen wir, dass der allergrößte Heilungseffekt darin besteht, den Menschen wieder Hoffnung auf eine positive Veränderung zu geben. Wenn ich gar keine Hoffnung mehr habe, was wir schon bei manchen erleben, dann empfinden Menschen gar nichts mehr. Das ist eigentlich der langsame Tod und die Organe setzen sich langsam ab. Ich hab aber schon das Gefühl, dass je mehr Menschen hier unten sind und appellieren und sagen das geht nicht, wir verlieren unsere Menschlichkeit, wenn wir das hier so zulassen, dass sich dann was verändern kann. Lager wie diese dürfen nicht existieren und wir sind hier mitverantwortlich und wir können hier was tun.“

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