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The Weather Station

Daniel Dorsa

The Weather Station machen Musik zur Klimakrise

Die kanadische Musikerin Tamara Lindeman veröffentlicht ihre Musik unter dem Namen The Weather Station. Gerade ist ihr neues Album „Ignorance“ erschienen. Es ist wunderbar unbequem.

Von Lisa Schneider

„Though we see the same world, we see it through different eyes“, schrieb Virginia Woolf 1938 in „Three Guineas“, dem weniger bekannten Nachfolger von „A Room Of One’s Own“. Beide diese feministischen Essays liegen bei Tamara Lindeman, die seit 2008 unter dem Namen The Weather Station Musik macht, auf dem Stapel ihrer aktuellen Lieblingsbücher. „I found those two pieces of writing are so much more modern and subversive than I realized“, erzählt sie im FM4 Interview, „she’s a genius, so I wasn’t surprised, but especially ‚Three Guineas‘ struck me, as there were so many things that resonated with me“.

Die selbe Welt, durch andere Augen gesehen. Ganz Ähnliches passiert, hört man sich die Musik von The Weather Station an.

Eine Empfehlung

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Menschen, die The Weather Station hören, hörten auch: Aldous Harding, Phoebe Bridgers, Waxahatchee, Big Thief.

Es erscheint viel gute Folkmusik in Kanada, das ist eine mögliche Erklärung dafür, dass Tamara Lindeman und ihre Musik als The Weather Station hier noch eher als eine Art Geheimtipp gehandelt werden. Sie lebt und schreibt in Toronto, einer guten, durchmischten, lebhaften Szene, wie sie erzählt. 2009 erscheint das erste Album, „The Line“. Es ist erdig, sehr wortbezogen, die musikalische Begleitung basiert fast ausschließlich auf Banjo und fingerpicked Gitarre. Tamara Lindeman folgt ihrem mäandernden und aufs Notwendigste reduzierten Schreibstil großteils auch auf den Folgealben „All Of It Was Mine“ (2011) und „Loyalty“ (2015).

Der mit Artrock fusionierte Folk ihres zuletzt veröffentlichten, selbstbetitelten Albums hat den Weg geebnet für das, was sie und wir jetzt in Händen halten: den womöglich besten Langspieler von The Weather Station mit dem Titel „Ignorance“.

Sanftes Schürfen an der Hi-Hat, Schlagzeugrollen und Spannungsaufbau, der seine Energie in Wellen ausstößt, und das über eine Minute lang, bis Tamara Lindeman einsetzt mit der ersten Zeile dieses neuen Albums: „I never believed in the robber.“ Zuerst ist da ein Bild im Kopf, ein wahrscheinlich schwarz gekleideter Mensch mit Sturmmütze und Beutel in der Hand steigt beim linken Garagenfenster in ein im Dunkeln gelegenes Haus ein. Aber das Lied geht weiter:

No, the robber don’t hate you
No, the robber don’t hate you
He had permission
Permission by words
Permission of thanks
Permission by laws
Permission of banks

„Robber“ ist „ein Lied der groß gedachten Metaphern“, für Christoph Sepin ist es ein FM4 Song zum Sonntag.

Das hier ist keine einfache Einbruchsgeschichte, weil es in den Liedern von The Weather Station keine Eindimensionalität gibt. „Robber“ ist subtile Kapitalismuskritik, die eine sanfte Opfer-Täter-Umkehr zulässt. Vorsätzlich naiv zu sein, haben wir uns selbst ausgesucht, und wo der Unterschied zwischen dem Ausrauben und dem Gründen einer Bank liegt, hat sich schon Bert Brecht gefragt. Vorlesungen könnten abgehalten werden über die offenen philosophischen, politischen und ökonomischen Fragen dieses Textes, und genau damit sind wir auch schon mittendrin im Kosmos von The Weather Station: Das alles ist hervorragend kompliziert.

Genütztes Nicht-Wissen

„I don’t feel the need to write songs about things that I understand. I feel drawn to write a song when I don’t fully understand something“, sagt Tamara Lindeman, und beginnen darf das alles gleich auch beim Albumtitel. „Ignorance“ klingt zuallererst konfrontativ, aber wer nachschlägt, wird auch die Bedeutung „absence of knowledge“ finden: „The absence of knowledge is a treshold, where you don’t know, that’s the moment you can know. You have to have a sense of humility before you can truly understand something or someone.“

Die Figuren, die wir auf „Ignorance“ treffen, wissen noch nichts oder noch nicht viel. Sie stolpern durch Beziehungen, Karrieren, geplatzte Träume und das alles mit dem seltsamen Gefühl im Bauch, dass da irgendetwas nicht stimmt. Diese Ahnung entsteht ganz sacht, wie etwa im Lied „Tried To Tell You“, in dem Tamara Lindeman singt: "I’ll feel as useless as a tree in a city park, standing as a symbol of what we have blown apart.” Und es geht weiter: Der gelenkige Soft-Disco-Flair von „Parking Lot“ hält die Protagonistin nicht vom Weinen um die schrumpfende Singvogelpopulation ab. Dann „Atlantic“, das Lied, das schließlich diese kleinen, persönlichen Geschichten zu einer universellen Befangenheit zusammenfasst: „I should really know better than to read the headlines, does it matter if I know? Why can’t I just cover my eyes?“

Auch im Gespräch mit FM4 erzählt Tamara Lindeman vom nur zu menschlichen Wunsch, weniger zu wissen. „Something that changed when I toured so much was that I felt like I was losing my relationship to the natural world, because I couldn’t look at the climate crisis, I felt so much guilt and shame like so many people; it was like coming between me and the world. But since I’ve been writing this album I’ve been able to circle back, maybe because I allowed myself to really face the climate crisis I can love the world again.“ Der letzte Satz klingt zuerst wie eine Frage, aber dann kommt ein nachdenkliches, zustimmendes: „Yeah, that’s it“.

Cover "Ignorance" The Weather Station

Fat Possum

„Ignorance“ von The Weather Station erscheint via Fat Possum.

„Ignorance“ kommt in seiner jazz-, aber erstmals auch poplastigeren, rhythmisch getriebenen musikalischen Hülle der Redewendung vom Wolf und dem Schafspelz sehr nahe. Es sind Lieder, die im Oeuvre The Weather Station ungekannt leichtherzig hervorstechen, die ursprünglich fürs Livespielen, für die Festivalbühnen geschrieben worden sind. Das hätte sie sehr gerne gemacht, diese neue Musik und die ihr wichtigen Anliegen mit dem Publikum geteilt. Tamara Lindeman ist durchaus auf einer Mission, aber auf einer ohne Zeigefinger.

„The future is dark, which is the best thing the future can be, I think“, schrieb Virginia Woolf 1915 in ihr Tagebuch. Dunkel vielleicht, aber auch unentdeckt und unbeschrieben. Mit dieser Zeile im Hinterkopf ist das, was Tamara Lindeman ganz am Ende unseres Gesprächs sagt, noch ein bisschen besser zu verstehen: „What I would want people to take away is the encouragement to take and see things as they are, and to be unafraid of sorrow.“

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