FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Goat Girl und ihr neues Album "On All Fours"

Holly Whitaker

Neues Goat Girl Album „On All Fours“

Der Erstarrung der Gegenwart etwas entgegensetzen. „On All Fours“ ist das zweite Album der Rockband aus London und es ist ein Befreiungsschlag auf mehreren Ebenen.

Von Christian Lehner

Da lachen sie los. Ich versuche im Videochat, Lottie Pendlebury a.k.a. Lottie Cream und Rosy Jones a.k.a. Rosy Bones zu erklären, was „On All Fours“ auf Deutsch bedeutet: am Boden sein, fertig sein. „Auf Englisch ist die Phrase sexuell konnotiert“, erklärt Sängerin Lottie. Später im Interview zur FM4-Wordrap-Kolumne „Seriously“ wird sie deutlicher: „It means getting it in the butt.“ Okay, „g‘fickt sein“, wäre dann wohl die wienerische Zusammenführung beider Wortspiele. Phrasen aller Länder vereinigt euch!

„Der Titel beschreibt eine Unterwerfung, aus der man jedoch auch Stärke gewinnen kann“, sagt Lottie. In den weiteren Ausführungen wird klar, dass Goat Girl damit verschiedene Bedeutungsebenen aufreißen. Da wären die Zwänge, die durch die Corona-Krise unser aller Leben beschränken. Sich den Regeln einer verhassten Regierung beugen, fällt schwer; trotz Vernunft in Bezug auf die Gefahr durch die Pandemie.

In einem der frühen Songs, dem Stück „Scum“, das 2018 auf der EP „Udder Sounds“ erschien, nahmen Goat Girl den Brexit noch direkt auf die Hörner: „How can an entire country be so fucking thick?“, fragte sich das Frauenquartett damals. Die Wut ist auf „On All Fours“ einer tieferen Sorge gewichen. Die Frage manifestiert sich nun im dem Songtitel „Where Do We Go?“ Gemeint ist das Post-Brexit England der Vulnerablen und Marginalisierten.

Wohin nur im UK?

Diese Frage lässt sich über das Brexit-Desaster direkt auf die Corona-Krise umlegen. Zwar entstanden die Songs für das neue und zweite Album noch vor dem Lockdown, doch die Unfähigkeit der Verantwortungsträger*innen, die Problemfelder Umwelt (Song „The Crack“), soziale Gerechtigkeit, Gesundheit (Song „Anxiety Feels“) und Diskriminierung von Minderheiten emphatisch und nachhaltig anzugehen, spitzen sich nun im Versagen der Regierung im Umgang mit dem Virus zu. „Wir haben versucht, gegen dieses Gefühl der allgemeinen Ohnmacht anzukämpfen und auch direkt Hand anzulegen“, sagt Lottie. So engagierten sich einige Bandmitglieder während der Zeit des erstens Lockdowns in Hilfsprojekten in ihrer Nachbarschaft.

Die zweite Ebene, auf die der Albumtitel anspielt, betrifft die Stellung der Band innerhalb der Musikszene Englands. Goat Girl stammen aus dem Umfeld des Windmill Clubs in Brixton. Noch bevor sie den ersten Song aufgenommen hatten, wurde die Band vom renommierten Indie Label Rough Trade gesignt. Die Zeichen stehen wieder gut für Gitarren-Rock made in England. Bands wie Black Midi, Sorry, Porridge Radio, Black Country, New Road, Fontaines D.C. und Goat Girl stoßen international auf große Resonanz. Doch für Goat Girl wiegen die Gitarren mittlerweile zu schwer.

Goat Girl und ihr neues Album "On All Fours"

Rough Trade

„On All Fours“ ist auf Rough Trade erschienen. Hier geht’s zum Interview-Podcast mit Lottie Cream und Rosy Bones.

In bester Post-Punk-Tradition spielen sie sich auf „On All Fours“ frei und in einen stilistischen Rausch hinein. „Wir haben einfach die Instrumente gewechselt, um die Perspektiven zu ändern“, sagt Rosy Bones. „Ehrlich, ich habe mich schon etwas gelangweilt am Schlagzeug, aber über den Tausch der Instrumente war plötzlich die Begeisterung für das eigene Tool wieder da.“

Der raue Gitarren-Sound aus dem selbstbetitelten Debütalbum (2018) ist einem Geflecht aus Synthesizer-Klängen, Dub-Splittern, Jazz und knappen Gitarrenriffs gewichen. Erstmals haben alle vier Bandmitglieder am Album mitgeschrieben. Die Songs sind einem gewissen Pop-Appeal nicht abgeneigt, können in ausgewählten Passagen aber auch ziemlich verstimmt klingen. Das erinnert stilistisch an Altvordere wie The Slits oder Stereolab. Obwohl sich Goat Girl nicht über einen bestimmten Sound definieren, trägt ihre Musik diese wiedererkennbare Signatur in sich, die es braucht, um aus dem Meer der Bands in London hervorzustechen.

Traurige Cowboys

Die dritte Ebene der Unterwerfung und Überwindung fußt auf den persönlichen Erfahrungen der Goat Girls. Die zweite Gitarristin Ellie Rose Davies a.k.a. L.E.D. singt über ihre Ängste nach einer überwundenen Krebserkrankung, Lottie hat einen Job in einer Hilfsorganisation für autistische Menschen angenommen und Rosy Bones outete sich nach der letzten Pride Week in London als non binary. „Ich wollte damit die Plattform der Band nutzen, um Menschen in einer ähnlichen Situation Mut zu machen“, sagt Rosy dazu.

Im Stück „Sad Cowboy“ spielen Goat Girl mit der Ästhetik der Country- und Western-Musik. „Wenn ich die Augen schließe und den Song höre, bin ich in einem Western Movie“, sagt Lottie. „Dort herrscht eine ganz eigene Art von Anarchie.“ Der Country-Sound wurde bereits am Debüt angerissen und wird nun verfeinert. „Sad Cowboy“ ist auch von dem Country-Hype auf TikTok inspiriert, der 2019 Little Nas X mit „Old Town Road“ an die Spitze der Charts katapultierte. Der Trend, der auf TikTok mittlerweile durch das Shanty-Meme abgelöst wurde, traf speziell bei queeren User*innen einen Nerv. „Es ist interessant, wie die Macho-Attitude dieser Kultur in weiche Zeichen übersetzt wurde“, sagt Lottie. „Das wollten wir auch in ‚Sad Cowboy‘ verwirklichen.“

Goat Girl und ihr neues Album "On All Fours"

Christian Lehner

Lottie Cream und Rosy Bones im FM4-Videochat

„On All Fours“ soll aus der Pose der Unterwerfung heraus Stärke vermitteln. Das ist Goat Girl ausgezeichnet gelungen. Die Musik atmet den Geist der Gegenwart und ist dabei so abenteuerlich, rebellisch und - für Anfangzwanziger*innen - auch ausgereift, dass man sich noch viel erwarten darf von dieser sehr speziellen Band aus Südlondon.

mehr Musik:

Aktuell: