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Bandportrait The Notwist

Johannes Maria Haslinger

The Notwist „Vertigo Days“: Indie-Pop-Soundtrack unserer Zeit

Nach sieben Jahren hat die Weilheimer Kult-Band The Notwist wieder ein Album veröffentlicht. „Vertigo Days“ ist der Soundtrack zum derzeitigen Weltzustand des Zerfalls, dem unaufhaltsamen Wandel und sprengt dabei trotz Lockdown musikalische und nationale Grenzen. Und es ist ein Plädoyer für Offenheit und die Liebe.

von Andreas Gstettner-Brugger

Während Markus und Bruder Micha Acher, die Masterminds der Weilheimer Kultband The Notwist letztes Jahr sehr isoliert in ihrem kleinen Studio in München gesessen sind, um ihre neue Platte fertigzustellen, hatten sie das Gefühl, die Musik nur für sich zu machen, während draußen gerade die Welt zusammenbricht. Die Stimmung war surreal, wie in einem Traum, der die Realität um einen herum verzerrt und verschwimmen lässt.

So klingt auch das neue, neunte Studio-Album „Vertigo Days“, das auf meisterliche Weise sowohl musikalisch als auch textlich eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlägt. Zwischen melancholischem Indie-Pop und experimentellen, energisch-rockigen Stücken. Zwischen Filmmusik und Songstruktur. Und es schlägt eine Brücke zwischen den sich zurzeit abspaltenden Nationen.

Die Fragmentierung der Vergangenheit

Vor gut 30 Jahren hat sich im beschaulichen Weilheim die Band The Notwist gegründet. Anfänglich hat man noch versucht, durch Hardcore, Noise und Indierock gepaart mit melancholischen Melodien der ländlichen Einöde zu entfliehen und hat damit schon die musikalischen Weichen für einen eigenständigen Grundsound gestellt.

Albumcover "Neon Golden" von The Notwist

The Notwist

Das Album „Neon Golden“ bescherte The Notwist 2002 den internationalen Durchbruch. Auch in ihrem neuen Album „Vertigo Days“ kehren sie mit Sound- und Textreferenzen zu dieser Zeit zurück.

Auf dem dritten Album „12“ haben die deutschen Ausnahmemusiker das Leise-Laut-Prinzip und die Dynamik eines Indie-Noise-Pop Stücks bis zum Exzess getrieben. Damals war auch schon die eine oder andere Posaune zu hören. Der große musikalische shift kam 1998 mit der Platte „Shrink“, bei der vor allem Martin Gretschmann durch seine frickelige Elektronik die Klangwelt der Band in eine andere Soundgalaxie gehoben hat.

Nur vier Jahr später gelang dann mit dem Meisterwerk „Neon Golden“ der internationale Durchbruch. Danach folgten drei weitere Platten im Abstand von jeweils sechs Jahren, einige Side-Projekte, Filmmusik-Produktionen und mit Alien Disko kuratieren sie in München sogar ihr eigenes Kunst- und Musikfestival.

Jetzt ist mit „Vertigo Days“ ein vielschichtiges, in sich verwobenes und klanglich sehr dichtes Werk erscheinen, in dem die Band versucht hat, sich so weit wie möglich von ihrem Ursprungssound zu entfernen, um herauszufinden, ob das was entsteht, immer noch nach The Notwist klingt.

Alles aufbrechen und „kaputt machen“, meint Markus Acher, hat den altgedienten Musikern während der Arbeit am Album Spaß gemacht. Das Fragmentieren ihres Sounds hat schon mit dem Vorgänger „Messie Objects“ vor fünf Jahren begonnen, eine Sammlung von Produktionen für Film, Theater und Hörspiel. Diese Arbeit hat die Herangehensweise von „Vertigo Days“ beeinflusst. Basierend von Filmmusik-Ideen haben die Acher Brüder mit Elektroniker Cico Beck viel experimentiert und sessionmäßige Grundstrukturen und Songskizzen aufgenommen. Daraus sind kurze einminütige Miniaturen wie „Al Norte“, „Stars“ oder „Ghost“ entstanden.

Auch ein Song wie „Al Sur“ lebt von der Experimentierfreude und dem Sprengen von Grenzen. Ein schneller, metallischer Beat, viele Percussions und wenige Harmonien werden zu einem hypnotischen Tribal-Song. Hier wird auch das Bandgefüge aufgelöst, da die argentinische Sängerin und Produzentin Juana Molina dem Track nicht nur ihre Stimme geliehen, sondern ihn auch mit produziert hat.

Das Zusammensetzen in der Gegenwart

Der Versuch, sich soweit wie möglich vom alten Bandkonzept und Sound zu entfernen, hat spannender Weise immer wieder zur Rückkehr zum Ursprung geführt.

Das zarte, umarmende und berührende Stück „Sans Soleil“ holt den melancholischen Indie-Pop-Zugang in die Gegenwart. „No more runaway from now / no more runaway from here“, singt Markus Acher in seiner gewohnt zerbrechlichen Art und bezieht sich damit auf die Zeit des Lockdowns, in dem dieser Song im Münchner Studio entstanden ist.

„Sans Soleil“ ist inhaltlich ein schönes Beispiel dafür, dass wir nicht vor uns selbst und unserer Vergangenheit davonlaufen können. In der Isolation, dem nicht mehr Rausgehen oder Reisen können, sind wir, wie Markus Acher meint, komplett auf uns selbst zurückgeworfen. Man hat nicht mehr die Zerstreuung und den ständigen Eskapismus zur Verfügung. In dieser Zeit sind bei dem sympathischen und zurückhaltenden Sänger Erinnerungen aufgetaucht, an Reisen und das Zusammensein mit entfernten Freunden. Deshalb stand für diesen Song der Film „Sans Soleil“ von Chris Marker Pate. Eine filmische Meditation über Mensch, Natur und das Erinnern, den sich Markus Acher im Lockdown immer wieder angesehen hat.

Auch das wundervoll reduzierte „Where You Find Me“ mit seinen rohen, genialen Bass-Linien, die mit den verträumten Glöckchensounds und Synthies verschmelzen, macht hörbar, wie die Vorlieben und Wurzeln der Band sich immer wieder in all dem zeigen, was sie tut. So tauchen hier Flötenklänge auf, die einen sofort in das Jahr 2002 zurückversetzen und die Single „Pick up the phone“ durchschimmern lassen. Das Lied ist ein Versuch, auszuloten, wie nah man an der eigenen Vergangenheit sein kann, ohne den Gegenwartsbezug zu verlieren und etwas Neues zu kreieren.

Was uns am Ende zusammenhält

The Notwist haben auf „Vertigo Days“ das Kunststück geschaffen, ein in sich schlüssiges, selbstreferenzierendes, abwechslungsreiches und hypnotisches Werk zu schaffen, das durch immer wieder auftretende musikalische und inhaltliche Themen einen unglaublichen Sog entwickelt. Trotz traumwandlerischen Klangmomenten ist es auch ein politisches Album geworden.

Albumcover "Vertigo Days" The Notwist

The Notwist/Morr Music

Markus Acher erzählt im Interview, dass es von Anfang an eine sehr rhythmische und direkte Platte werden sollte, die nicht nur schön und verträumt klingt, sondern auch die aufwühlende Zeit der letzten Jahre hörbar machen sollte. Eine Zeit, die von immer extremer werdendem Nationalismus und Rassismus geprägt ist. Dem ultrakonservativen Gedankengut dieser Strömungen setzten The Notwist auf „Vertigo Days“ eine große Offenheit entgegen. Mit ihren Gastmusiker*innen wie Saya, der Japanische Sängerin der Band Tenniscoats, dem amerikanischen Multiinstrumentalist Ben LaMar Gay oder der US-Jazzmusikerin Angel Bat Dawid haben die deutschen Musiker trotz Lockdown über nationale Grenzen hinweg die Welt in ihr Studio geholt und öffnet damit unsere Ohren für die Diversität, die das Leben spannend und lebenswert macht.

Gleichzeitig ist „Vertigo Days“ eine Platte über den Zerfall. Über das Realisieren, dass sich das Leben von einem Moment auf den anderen komplett ändern kann. Sowohl auf privater, als auch globaler Ebene. So heißt es im ersten Song „Into Love / stars“:

now that you know that the stars ain’t fixed, the roads ain’t straight
now that the sky can fall on us
now that you know how much it hurts won’t save you from
falling into love again

Eine Textsequenz, die beim Schlussstück „Into Love Again“ wieder auftaucht und so das ganze Werk umspannt. Auch wenn The Notwist es nicht explizit sagen, wird dadurch deutlich, dass es die Liebe ist, die uns zusammenhält, wie turbulent die Zeiten auch sein mögen.

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