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Zum 10-jährigen Jubiläum: Eine Liebeserklärung an „Drive“

Wie die Zeit vergeht: Nicolas Winding Refns NeoNoir-Meisterwerk feiert einen runden Geburtstag. Und auch der FM4 Film Podcast gratuliert.

Von Christian Fuchs

Am Anfang steht kribbelige, fast schon fiebrige Vorfreude. Als im Mai 2011 „Drive“ beim Filmfestival in Cannes seine Premiere feiert, sind die ersten Kritiken und Augenzeugenberichte hymnisch. Der neue Film von Nicolas Winding Refn, der an der Croisette auch noch den Regiepreis einheimst, hört sich extrem vielversprechend an.

Die Euphorie steigert sich in den folgenden Monaten noch. Mit klopfendem Herzen sitzt der Schreiber dieser Zeilen dann bei der Viennale-Aufführung von „Drive“. Und wird nicht enttäuscht. Refn hat ein Pop-Kunstwerk erschaffen, das auch innerhalb seines eigenen Schaffens einen Sonderplatz genießt.

Der FM4 Film Podcast ist ab dem 1.2.2021 fix am eigenen Sendeplatz, am Montag um Mitternacht, zu hören. Und bei der ersten Folge an diesem Sendetermin dreht sich alles um „10 Jahre Drive“. Nachzuhören auch als Podcast.

Der dänischen Regisseur begeistert zuvor bereits mit packenden Filmen, von der desolaten „Pusher“-Trilogie über den noch brachialeren Gefängnisschocker „Bronson“ hin zum apokalyptischen Wikinger-Delirium „Valhalla Rising“. Ziemlich dezitiertes Männerkino an der Oberfläche, wenn man sich auf Genderklischees einlässt, mit einem stetig zunehmenden Hang zur Abstraktion inmitten entfesselter Genrekino-Brutalität.

Winding Refns Arbeiten vor „Drive“ kann man bestaunen, sich davon fesseln und verstören lassen, sie aber wohl nicht wirklich anhimmeln. Und dann überrascht der Regisseur plötzlich mit einem Film, in dem an entscheidenden Stellen zwar ebenfalls die Blutsuppe in die Kamera spritzt, der aber dennoch so anders ist als die Vorgänger. „Drive“ entpuppt sich nämlich als Streifen zum Verlieben, zum innigen Umarmen, zum mit in die Träume nehmen. „Drive“ hat inmitten des Schreckens ein warm pulsierendes Zentrum, ein pochendes Herz aus zuckerlrosa Neon.

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Stille und Ruhelosigkeit

Ryan Gosling, der damals in der Kategorie „Indiekompatibles Sexsymbol“ sämtliche Konkurrenten abhängt, ist der Driver. Bei Tag crasht er als Stuntfahrer diverse Schlitten vor laufender Kamera zu Schrott, nachts spielt er bei Einbrüchen und Überfällen den Fluchtfahrer. Keine Gewalt wünscht er sich dabei, der Mann mit der (inzwischen ikonischen) goldenen Satinjacke mit dem aufgenähten Skorpionsymbol.

Eines Tages wird der eisern disziplinierte Alltag des Drivers, zwischen Professionalismus und Kriminalität, durch eine Begegnung aufgebrochen. Ein Lächeln auf einem Hotelkorridor bringt seine Kontrolliertheit ins Schwanken. Eine junge Frau (gespielt von der großartigen Carey Mulligan) grinst ihn an, mit ihrem kleinen Sohn im Arm. Er wird das charmante Grübchen auf ihrer Wange wiedersehen, ihr Blick ihn nicht mehr loslassen.

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Auch wenn viele „Drive“ längst kennen, möchte ich an dieser Stelle, wo die Geschichte des Films erst losrollt, jegliche Nacherzählung abbrechen. Nicht bloß, um Uneingeweihten die Freude an diesem Meisterwerk nicht zu verderben. Sondern weil sich „Drive“ gar nicht so dringlich um die Idee einer ausgefeilten Handlung kümmert. Nicolas Winding Refn ist weit von den gefinkelten Storygerüsten und Dialog-Marathons eines Quentin Tarantino entfernt.

Was er mit dem berühmten Regiekollegen teilt, ist allerdings die Strenge der Inszenierung. Jede Einstellung in „Drive“ wirkt sekundengenau auf den Punkt getimed, absolute Stille wechselt sich mit rauschhafter Ruhelosigkeit ab, Minimalimus mit maximaler Effektivität. Von der elektrisierenden Creditsequenz bis zum Abspann sitzt alles hier.

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Ein Fahrer ohne Namen

Ein derartig manisches Gespür für Ästhetik kann sich natürlich auch schnell in eine Sackgasse verwandeln. Die Gefahr eines eisigen Perfektionismus, der jedes Leben zwischen den durchkomponierten Bildern erstickt, spürt man in „Drive“ aber nie. Ganz im Gegenteil erfüllt eine unerhörte Vitalität diesen Film, selbst in seinen reduziersten Augenblicken, die komprimierte Emotionalität hallt noch Tage nach dem Kinobesuch nach.

Das ist doppelt bemerkenswert, weil Nicolas Winding Refn auch punkto Charakterzeichnung auf bewusste Stilisierungen sitzt. Der wortkarge Driver braucht keinen Namen, weil er eine mythische Figur ist, aufgeladen mit Pop-Ikonografie. Einer von „Gottes einsamen Männern“, wie Paul Schrader solche einzelgängerischen Figuren nannte, ein Loner in der Nachfolge von Robert de Niro („Taxi Driver“), Alain Delon („Le Samouraï“) oder Clint Eastwood, inklusive dessen Markenzeichen-Zahnstocher im Mund.

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Auch das zwielichtige Personal, das die Schattenwelt von Los Angeles bevölkert, verkörpert von fantastischen Typen wie Albert Brooks, Ron Perlman oder Bryan „Breaking Bad“ Cranston, scheint weniger aus der Wirklichkeit als aus dem Kino oder bestimmten TV-Serien zu stammen.

Aufdringlich konkret werden die Assoziationen an Walter Hill, William Friedkin oder Michael Manns TV-Serie „Miami Vice“ aber nie, sie flackern nur wie Schemen im filmischen Unterbewusstsein auf, genauso wie Verweise auf die Autofetischismen in den Undergroundstreifen des legendären Kenneth Anger.

Winding Refn, der eng mit Ryan Gosling zusammenarbeitete, erschafft aus all dem Vorrat an Archetypen, aus Verweisen an die Sechziger und Achtziger, ein gänzlich originäres Gegenwartswerk. Angemessen pathetisch ausgedrückt: Eine Beschwörung großer Gefühle, eine Hymne an die Sentimentalität, eine Ballade über Einsamkeit und glänzendes Chrome, Liebe und Stahl, Tod und Erlösung.

You keep me under your spell

Ganz zentral dabei: Einer der besten Soundtracks der jüngeren Filmgeschichte. Cliff Martinez entwirft auf den Spuren von Elektronik-Pionieren wie Vangelis und Tangerine Dream eine einlullende Musik, die man auf nächtlichen Autofahrten ohne Pause hören möchte. Bis zum Sonnenaufgang, ob mit oder ohne Showdown. Es ist ein Sehnsuchts-Score, der die Entfremdung des Drivers auf den Punkt bringt, aber auch uns Betrachtern im dunklen Saal Raum für melancholische Projektionen lässt.

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Unterbrochen werden die wabernden Synthklänge von noch sehnsüchtigeren Songs, grandiose Electropop-Unschuld von Bands wie Kavinsky, College oder Desire. „I don’t eat, I don’t sleep, I do nothing but think of you, you keep me under your spell.“

Nicolas Winding Refns Neo(n)-Noir-Ballade lebt zur Gänze von solchen Songs, Klängen, Stimmungen, Bildern, von einer hypnotischen Atmosphäre, die vom Vorspann an einen Sog entwickelt, der nicht mehr loslässt.

„Drive“ ist ein Streifen, der Kino-Konventionen den ausgestreckten Mittelfinger zeigt, der nur wenig Worte benötigt, keinerlei Psychologie und eine Story, die auf ein Grundgerüst reduziert ist. Und der dennoch oder gerade deswegen alles auf den Punkt bringt, was das Medium Film im beginnenden 21. Jahrhundert so essentiell, so kostbar, so einzigartig macht.

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