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Black Country New Road

Maxwell Grainger

Black Country, New Road: Believe the hype

Generationen-Depression und white middle-class privilege, Popkultur im Überfluss, Euphorie und Exzess: Das Debütalbum des britischen Septetts Black Country, New Road zwischen Postrock, Free Jazz und Noise ist so gut, wie alle sagen.

Von Katharina Seidler

Isaac Woods Ich-Erzähler hat Probleme. Er ist keine Rock’n’Roll-Ikone, er ist nicht auf dem Cover eines coolen Magazins, er ist kein anerkannter Vinyl-only-DJ. Shampoo und Conditioner verschaffen ihm nicht die versprochene Haarpracht, Instagram birgt keine neuen Erkenntnisse, das neue Kanye-West-Album ebenso wenig. In dem Track „Theme from failure, Pt. 1“ reflektiert Wood unter seinem Solo-Alter-Ego The Guest ein paar Privilegien und first world problems, ein simpler DIY-Popsong voll popkultureller Referenzen.

Isaac Wood selbst hat vermutlich auch irgendwelche Probleme, aber derzeit scheint es recht gut für ihn zu laufen. Mit seiner Band Black Country, New Road ist der Anfang Zwanzigjährige drauf und dran, das nächste große Ding am Avantgarde-Indie-Himmel zu werden. Die internationale Musikpresse von Guardian bis The Quietus, über Spiegel, NME, Ö1 und Stereogum war sich schon lange nicht mehr so einig in ihrem Staunen über die Überfülle an Ideen und die geradezu unverschämte Vermixung von Stilen, Worten und Instrumenten auf dem soeben erschienenen Debütalbum „For the first time“.

Ebenso wie in der oben genannten „Titelmelodie des Scheiterns“ des Soloprojekts The Guest, mit ihren Popkultur-Drop-ins von „How I met your mother“ bis „Mad Max“ und „Black Mirror“, staunt man auch im Laufe des Bandalbums nicht schlecht ob der zahlreichen Querverweise und kleinen Geschmacksmarker in Woods stream-of-consciousness-artigen Lyrics. Hier Bruce Springsteen, dort Cirque du Soleil, hier eine dänische Crime-Drama-Serie, dort der britische Exzentriker Jerskin Fendrix und die ebenfalls Londoner Math-Rock-Noise-Jazzer Black Midi, mit denen Black Country, New Road gern in einem Atemzug genannt werden. Auch sie greift ein Songtext auf: „I told you I loved you in front of Black Midi“.

Die flächendeckende Begeisterung für Black Country, New Road bezieht sich unter anderem auf die herrlich erfrischende Art, wie frei und arglos die sieben Mitglieder mit Genrebegriffen umgehen. „Für unsere Generation ist es ganz normal, mit Spotify, Wikipedia und Co in einem Reichtum an jederzeit verfügbaren Informationen aufzuwachsen“, meint Isaac Wood dazu eher schulterzuckend im Interview. „Früher war es etwas viel Besondereres, Genregrenzen einzureißen, heute ist es eher normal.“

Black Country, New Road Albumcover "For the first time"

Unsplash by @asafyrov / Ninja Tune

„For the first time“ von Black Country, New Road ist am 5.2.2021 bei Ninja Tune erschienen.

Des Öfteren hört man aus seinem dunklen Sprechgesang in Kombination mit den Stop-and-go-Gitarren Parallelen zu den Post-Rock-Göttern Slint, und dieser Vergleich wurde von der Musikpresse so oft gemacht, dass Wood ihn in seinen Lyrics augenzwinkernd sogar einmal selbst aufgreift: “I fled from the stage with the world’s second-best Slint tribute act”.

Diese Ironie betrifft in den Texten nicht nur die Band selbst, sondern ihre ganze Generation im Wirbelwind der Referenzen. Ein sexueller Kontakt zu einem Taylor-Swift-Fan geht für den Ich-Erzähler in dem Song „Athens, France“ schief, und immer wieder treffen schlechter Sex und trashy Pop im Laufe der 40 Minuten Albumlaufzeit aufeinander: „Fuck me like you mean it this time, Isaac“, heißt es in einer frühen Version des Songs „Sunglasses“ (auf dem Album ist eine andere enthalten), und lass dein Antidepressivum dabei im Schrank: „Leave your Sertraline in the cabinet.“ Überhaupt, „Sunglasses“ - eine knapp zehnminütige Macht von einem Song, ein wilder Ritt von Post-Rock zu Post-Punk zu Math-Rock hin zu einer free-jazzigen Noise-Explosion.

Leistungsdruck und Überforderung, Selbstgeißelung, Generationen-Depression und white middle-class privilege, Popkultur im Überfluss, Euphorie und Exzess werden auf „For the first time“ zu einem organischen Amalgam. Lustige Ausreißer durchziehen die düsteren Geschichten, die sich wie ein zersprageltes Generationen-Portrait auffalten.

Nicht minder vielgestaltig ist die Musik. Als beinahe kleines Kollektiv haben die sieben Bandmitglieder zahlreiche Variationsmöglichkeiten bei der Instrumentierung, und wie im Jazz übernehmen die einzelnen Instrumente abwechselnd die Führung, etwa das Saxophon von Lewis Evans oder die Geige von Georgia Ellery. Beide haben einen Background in der jüdischen Folk-Tradition Klezmer und treiben Nummern wie „Opus“ auch in diese Richtung. Dann gibt es da aber noch harschte Noise-Ausbrüche, jazzige Solos oder komplexe Rhythmuswechsel aus der Math-Rock-Schule, und stellenweise sogar eine kleine Verneigung in Richtung Minimal Music der Marke Steve Reich.

Keine Frage, das Album „For the first time“ des derzeit ungewöhnlichsten Indie-Septetts Großbritanniens wird sich Ende des Jahres in zahlreichen Bestenlisten wiederfinden. Bis dahin kann man bei dem ausufernden Post-Rock-Klezmer-Rave des Abschlusstracks „Opus“ von vollen Tanzflächen und einer Welt ohne Grenzen träumen.

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