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Time's Up: Fiktive Hafenstadt Installation RiseTurnton2047

Time's Up / CC BY-SA 2.0

auf laut

Wenn die Dystopie mit der Utopie tanzt – Tina Auer blickt 30 Jahre in die Zukunft

Die 1996 in Linz gegründete Kunstgruppe Time’s Up sieht sich als „Laboratorium für experimentelle Situationen“. Tina Auer von Time’s Up erzählt im Interview über die Macht der Zukünfte.

Von Lukas Tagwerker

Die begehbare Erzählung über das Leben im Jahr 2047 in der fiktiven Hafenstadt Turnton von der Kunstgruppe Time’s Up wurde vor vier Jahren bei der Ars Electronica erstmals präsentiert, und wird seither weiterentwickelt. Tina Auer von Time’s Up erzählt im Interview über die Macht der Zukünfte.

Radio FM4: Je mehr über die Bedrohung unseres Ökosystems bekannt wird, je mehr die Zukunft sich also verdunkelt, desto mehr wird in Szenarios und Spekulationen gesprochen, fantasiert und vorhergesagt. Neben einer akademischen Ratlosigkeit darüber, wie eine lebensfreundliche Transformation bewerkstelligt werden kann, blühen Futurologien. Wo steht ihr mit Time’s Up in diesem Feld der Wissensproduktion?

Tina Auer: Grundsätzlich glaube ich, dass Futurologie oder zumindest das Blicken in die Zukunft etwas sehr Altes ist. Ob das jetzt kollektive Zukünfte oder individuelle Zukünfte sind, das geht bis in ganz frühe Zeiten zurück. Die Futurologie ist sicher älter als die Erkenntnis, dass wir Grenzen des Wachstums haben. Dass es diese Grenzen des Wachstums gibt, wissen wir seit Mitte der 1970er Jahre.

FM4 Auf Laut: Klima-Utopie: Wie lebst Du im Jahr 2050?

Stellen wir uns vor, wir wachen im Jahr 2050 auf. Wie sieht das Leben angesichts der Klimaveränderungen aus? Hat die Menschheit die Klimakrise in den Griff bekommen? Gehört das Verbrennen fossiler Energien der Vergangenheit an? Gibt es autofreie Städte? Intakte Naturräume? Oder leben wir in einer Welt, in der wir uns an Wetterextreme - Stürme, Dürren, Überschwemmungen - und versunkene Küstengebiete gewöhnt haben?

Wie sieht dein Alltag, deine Nahrung, Arbeit, Mobilität und Freizeitleben im Jahr 2050 aus?

Auf Laut, 9.2.2021, ab 21 Uhr: Über utopisches Denken spricht Claus Pirschner mit Tina Auer vom Kunstkollektiv Time’s Up und mit Anrufer*innen: 0800 226 996

Wo sich Time’s Up , das Künstler*innenkollektiv, in dem ich aktiv bin, verortet, ist dort, wo verschiedene Disziplinen ineinander verschmelzen. Wir kommen weder aus der geradlinigen, reinen Futurologie, noch ausschließlich aus den „schönen Künsten“, sondern von dort, wo sich das alles beginnt zu vermischen. Also diese interdisziplinäre Form von Veranschaulichung, wir nennen es gerne „Verzimmerung“ von möglichen Zukünften. Das sind weder Blaupausen noch Prognosen. Dazu sind wir nicht in der Lage bzw. fehlt uns dazu das Interesse. Wir sehen uns eher im Feld des speculative designs und der experiential futures, also der erfahrbaren Zukünfte. Da geht es darum, Lust darauf zu machen, sich mögliche Zukünfte vorzustellen. Etwas Haptisches und mögliche Prototypen machen das dann buchstäblich greifbar.

Analysen, Prognosen und wissenschaftliche Hochrechnungen machen uns ja große Ängste, aber die kann ich nicht fassen. Da stehe ich dann völlig paralysiert davor und weiß: Wir nähern uns in immer rasanteren Schritten dem Untergang der Welt oder dem Untergang eines lebensfähigen Planeten und dann kann ich mich gar nicht mehr bewegen. Dann kommt vielleicht so eine Kopf-in-den-Sand-Attitüde auf und ich denke mir: Gut, dann mache ich weiter wie bisher, weil ich kann nichts mehr ändern. Der Futurologe Jose Ramos spricht hingegen von mutant futures, mutierte Futuristen, die jetzt beginnen, sich aus unterschiedlichen Disziplinen Informationen zu holen und diese mit unterschiedlichsten Medien so aufzubereiten, dass sie greifbarer und zugänglicher werden und mutiger und neugieriger machen.

Time's Up: Fiktive Hafenstadt Installation RiseTurnton2047

Time's Up / CC BY-SA 2.0

CC BY-SA 2.0

Seit einem Jahr haben wir alle Erfahrungen großer Ungewissheit gemacht. Wie haben diese Erfahrungen dein Denken und deine Erfahrung von Zeit geprägt?

Die schönste Erkenntnis ist doch, dass die Aussage „there is no alternative!“, die ganze Jahrzehnte geprägt hat, dass dieser Aussage gänzlich der Boden entzogen worden ist. Nicht nur, dass es sehr viele Alternativen geben kann, ist uns bewusst geworden, sondern auch, dass es viele Alternativen geben muss.

Mit Unsicherheiten und Ungewissheiten gilt es umzugehen und das müssen wir noch wesentlich mehr lernen. Resilienz und Widerstandsfähigkeit sind Talente, die es gilt, für uns alle in unserem Alltag zu integrieren. Das hat für mich das vergangene Jahr sehr schön gezeigt. Die Dinge sind noch wesentlich unsicherer als wir uns das gedacht haben. Das erlaubt - von einer bestimmten privilegierten Position aus sprechend - aber auch Spielräume.

Time's Up: Fiktive Hafenstadt Installation RiseTurnton2047

Time's Up / CC BY-SA 2.0

Tina Auer

Die ideologischen Sachzwänge des Neoliberalismus, die uns Alternativlosigkeit gepredigt haben, sind von kryptischeren Sachzwängen des Notstands-Regimes abgelöst worden, die unseren Alltag noch stärker strukturieren. Wo siehst du neue Fenster für unsere Vorstellungskraft und Möglichkeiten, zu gestalten?

Diese Fenster waren zu Beginn der Pandemie häufiger da. Es gab ein Aufatmen darüber, dass eine sozioökonomische Transformation vorangetrieben werden kann und in den ersten Monaten der Pandemie war mein Optimismus auch noch viel größer. Ich dachte, jetzt muss doch jeder und jede sehen, dass es mit diesen Sachzwängen und mit diesem Konkurrenzdenken anstelle von Kooperationsdenken nicht weitergehen kann. Da war eine bestimmte Euphorie und ein Optimismus.

Dass es zunehmend den Wunsch gibt zurück zu einem „normal“ - wie wir es vorher hatten – ohne zu bedenken, dass dieses „normal“ die Ursache für das Konglomerat an Krisen ist, in denen wir stecken und dass es sich jetzt immer mehr auf die Frage konzentriert „Wann kommen wir endlich wieder dorthin, wo wir waren?“, das finde ich sehr beunruhigend.

Die Fenster und die Spielräume kann ich jetzt nicht aufzählen, weil es mich auch besorgt, dass die weniger werden. Dem möchte ich mich aber auch nicht ganz hingeben, weil sonst werde ich ängstlich in der Ecke sitzen bleiben. Darum muss man sich wieder bewusst mit zusätzlicher Energie in diese Möglichkeit der Imagination bewegen und nach positiven Konsequenzen auf gesellschaftspolitischer Ebene Ausschau halten.

Time's Up: Fiktive Hafenstadt Installation RiseTurnton2047

Time's Up / CC BY-SA 2.0

Die Macht von Vorhersagen hat durch die Pandemie zugenommen. Mit großen Datenmengen und predictive analytics werden wirkmächtige Modelle für Vorhersage und Steuerung erstellt. Es sieht so aus, als ob uns Futurolog*innen und Modellrechner*innen regieren würden. In der Regierungs-Einrichtung future operations die uns durch die Pandemie lenken soll, sitzt z.B. der bekannte Trendfroscher und Futurologe Matthias Horx mit seinem Zukunftsinstitut. Müssen wir vielleicht alle Futurolog*innen werden?

Ob wir im Kontext von Computer-Modellberechnung und Prognose alle Futurolog*innen werden müssen? Da würde ich mir erlauben zu sagen: Nein, müssen wir nicht. Wo ich mir schon wünsche, dass jeder und jede die Möglichkeit hat, Futurologin und Futurologe zu werden, ist bei der Frage, in welcher Welt wir denn leben möchten?

Das heißt dann nicht unweigerlich, dass ich das auch 1:1 umsetzen kann, weil ich wahrscheinlich nicht die politische Macht dazu habe. Aber alleine das Schulen eines Möglichkeitssinnes, das Zulassen von Fantasien, auch wenn es nur um kleinere Änderungsschritte im ganz persönlichen Alltag geht, die aber wiederum mein Umfeld verändern, in diesem Sinne des Nachdenkens darüber wie Zukunft sein könnte und vor allem wie „bessere Zukunft“ sein könnte, würde ich das sehr befürworten. Weil die Kraft dieses Vorstellungstalents wiederum die Spielräume eröffnet und die blanke schiere Angst vor der Zukunft ein bisschen zurücknimmt. Da rede ich jetzt von kleinen feinen Schritten und nicht von der Modellrechnung, wie uns die Pandemie in den nächsten 5, 25, 530 Tagen gängeln wird.

Kleine feine Schritte – gibt es dafür kleine feine Beispiele?

Es gibt z.B. die ganz einfachen tools des future wheel oder future map. Scott Smith von changeist.com hat das in einem blog dargestellt. Er konnte im Lockdown nicht ins Büro und nicht zu Workshops und hat dann einmal festgestellt, welche Konsequenzen das in erster Ordnung für ihn hat. Es beginnt mit den Fragen: Was erachte ich gerade als zentrales Problem? Was sind die Konsequenzen, die sich von Außen dadurch ergeben? Und wie kann ich aus dem Inneren doch noch etwas Gutes aus der Situation machen?

Das unterscheidet sich aber von unserem Ansatz bei Time’s Up. Wir blicken eine bestimmte Anzahl von Jahren in die Zukunft. Das macht es „einfach“, weil dadurch entziehen wir uns ganz konkreten aktuell-politischen kleinkarierten oder kleingedachten Alltagsdiskussionen. Es ist bei uns immer das Zeitfenster von etwa 20 bis 30 Jahren, um mögliche Veränderungen zu zeichnen. Vorweg erlaube ich mir in die Zukunft zu projizieren und dann mache ich ein bisschen ein back-casting um zu erkennen, was würde es im Jetzt benötigen, um zumindest einmal in diese Richtung der definierten besseren Zukunft zu kommen.

Time's Up: Fiktive Hafenstadt Installation RiseTurnton2047

Time's Up / CC BY-SA 2.0

Wie habt ihr die Welt von Turnton im Jahre 2047 entwickelt?

Wir arbeiten seit 2016 an der story-world bzw. an dem Szenario Turnton. Im Laufe dieser Zeit haben wir sehr viele unterschiedliche professionelle Methoden kennengelernt, wie man so ein Szenario aufbauen könnte. Wir spazieren solche Methoden aber nicht Schritt für Schritt durch, sondern wählen einen sehr spielerischen Zugang. Plot points der Entwicklung waren Formen von Gemeinwohl-Ökonomie oder doughnut-economy, also Kostenwahrheit und so ein „Wir schaffen das!“-Ansatz.

Radical recycling und die Zirkularökonomie war eine der Säulen. Die Sorge um den Planeten, die Sorge um den Menschen und eine gerechte Versorgung aller, sind so Grundsätze gewesen. Die zentrale Anfangsfrage war: Wie wird sich Luxus 2047 definieren? Dann haben wir mit Methoden gespielt, um aus dieser system- und klimagewandelten Welt etwas zu bauen, womit wir dann direkt in so eine Story-World kommen.

Das übergeordnete Setting war das Jahr 2047 und es war auch immer klar, dass wir am Meer sind, weil das Meer bei der Klimaveränderung und als Migrations- und Handelsraum zentral ist. Dann haben wir gesagt, gut, versuchen wir es mit einer Stadt. Und dann haben wir begonnen diese Stadt zu beleben, indem wir Charaktere entwickelt und Institutionen etabliert haben. Von diesen Fiktionalisierungen sind wir in konkretere Situationen gegangen, in Stadtteile oder eben die Hafenanlage mit der Medusa-Bar oder das microplastic reduction lab. Aus diesen Situationen sind dann die Dinge hervorgegangen wie z.B. die Turnton Gazette, eine Zeitung oder ein Zug-Ticket für auf Wasserstoff-Hyperloops basierenden Transport, der die Kontinente verbindet. Es ist wie eine Leiter, wo man von der abstrahierten Zukunft immer mehr zu etwas haptisch Greifbarem kommt. Wie groß Turnton ist, hängt immer vom jeweiligen Ausstellungsort ab, die größte Version war ca. 350 Quadratmeter groß.

Als Künstler*innenkollektiv erweitern und vergrößern wir diese Welt inzwischen gemeinsam mit fast 200 Kompliz*innen, lassen den Leuten dabei aber immer einen sehr großen Interpretationsraum. Also wir haben bestimmte Dinge überhaupt nicht angesprochen in dieser Welt. Dieses Turnton 2047 ist nicht fertig gedacht. Es sind Fragmente, die wir in dieses Stadtszenario setzen. Vom Stadtplatz kann ich mich in eine Bar bewegen. In der Bar kann ich verschiedenen Dialogen lauschen z.B. einem Typen namens Hamish, der eine lokale ocean recovery farm betreibt.

Time's Up: Fiktive Hafenstadt Installation RiseTurnton2047

Time's Up / CC BY-SA 2.0

Auch wenn vieles von den Besucher*innen noch vervollständigt wird, die politische Ordnung von Turnton 2047 ist schon gezeichnet. Da gibt es zB ein „Amt für globale Transparenzen“, eine „Universelle Ethikkommission“ oder eine „Generalautorität für Nachhaltigkeit“. Was sind in dieser Welt die neuen Paradigmen? Was ist die utopische Setzung?

Wir sprechen vom Tanz, von der Umarmung von Utopie und Dystopie. Die ökologische Dystopie wird von einer gesellschaftspolitischen und ökonomischen Utopie gebrochen. Eine reine Utopie ist gar nicht so in unserem Sinne. Die Vorschläge, die wir machen, sind nicht an den Haaren herbeigezogen oder rein fabuliert, so kreativ sind wir gar nicht. Wir stützen uns fast ausschließlich auf bereits existierende Signale oder Konzepte wie z.B. wellbeingeconomy.org oder gojelly.eu. Quallen, die Mikro- und Nanoplastik aus Gewässern filtern können, das gibt es bereits. Wir erlauben uns, bestimmte Dinge aus dem jetzt ins Jahr 2047 zu extrapolieren, dass wir mit einer rotzfrechen Art und ohne zu wissen, wie das genau funktionieren kann, sagen: Wir haben eine progressive Besteuerung von individuellen Vermögenswerten. Das ist 2047 so. Es gibt die Finanztransaktionssteuer. Diese Werkzeuge, von denen man weiß, die würden eine bestimmte Verteilungsgerechtigkeit bringen, die sind etabliert. Wie wir dort hinkommen, können wir nicht vollständig auslinieren. Ich bin keine Ökonomin. Ich bin auch keine Futurologin. Ich kann nur im Jetzt fischen und versuchen, das zu projizieren und zu extrapolieren.

Time's Up: Fiktive Hafenstadt Installation RiseTurnton2047

Time's Up / CC BY-SA 2.0

Welche Erfahrungen haben die Besucher*innen der begehbaren Erzählung Hafenstadt Turnton bisher gemacht?

Auffällig ist bisher die ungemein hohe Verweildauer von Besucher*innen in Turnton. Unabhängig von der Altersgruppe lassen sich die Leute darauf ein. Die Liebe zum Detail macht aus einem Veranstaltungsposter oder dem Arbeitsoverall einer Pflanzenbestäuberin spielerisch Informationsquellen über den Zustand der Welt 2047. Das lädt dazu ein, sich selbst in dieser Zukunft zu verorten.

FM4 Auf Laut: Klima-Utopie: Wie lebst Du im Jahr 2050?

Weiterhören:
Ö1-Feature über die Hafenstadt Turnton von Susanna Niedermayr.

Stellen wir uns vor, wir wachen im Jahr 2050 auf. Wie sieht das Leben angesichts der Klimaveränderungen aus? Hat die Menschheit die Klimakrise in den Griff bekommen? Gehört das Verbrennen fossiler Energien der Vergangenheit an? Gibt es autofreie Städte? Intakte Naturräume? Oder leben wir in einer Welt, in der wir uns an Wetterextreme - Stürme, Dürren, Überschwemmungen - und versunkene Küstengebiete gewöhnt haben?

Wie sieht dein Alltag, deine Nahrung, Arbeit, Mobilität und Freizeitleben im Jahr 2050 aus?

Auf Laut, 9.2.2021, ab 21 Uhr: Über utopisches Denken spricht Claus Pirschner mit Tina Auer vom Kunstkollektiv Time’s Up und mit Anrufer*innen: 0800 226 996

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