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Marilyn Manson performs during the Astroworld Festival at NRG Stadium on November 9, 2019 in Houston, Texas

APA/AFP/SUZANNE CORDEIRO

Der Fall des Marilyn Manson: Eine Chronologie des Grauens

Körperliche Gewalt, Vergewaltigung, psychischer und sexueller Missbrauch, Erpressung, Demütigungen und Morddrohungen. Wir versuchen, die laufenden Anschuldigungen an Marilyn Manson zu ordnen.

Von David Pfister

Der berufliche Lebensweg des amerikanischen Grusel-Zampano nahm in den letzten Monaten wieder Fahrt auf. Marilyn Manson konnte sich über auffällig viele Zitate aus der HipHop-Welt freuen, brachte seine Schlachtgesänge prominent in Hochglanzserien wie etwa „Lovecraft Country“ unter und sein letztes Album „We Are Chaos“ vom September 2020 war auch wieder interessanter als viele Arbeiten zuvor.

Mit der Lawine von Missbrauchsvorwürfen, die seit über einer Woche größer und größer wird, wird diese Karriere aber nun wohl weitestgehend beendet sein. Da hilft auch das Sicherheitsnetz aus absichtlich gewebtem schlechten Ruf nichts, mit dem der Amerikaner bisher jeden Angriff zu seinen Gunsten drehen konnte. Es folgt nun eine Chronologie des Grauens.

Bereits 2016 erzählte Evan Rachel Wood auf Twitter und 2018 vor einem US-Kongressausschuss, dass sie in ihrer Vergangenheit mehrmals Opfer sexueller und psychischer Gewalt geworden war. Täter nannte die Schauspielerin damals aber nicht. Ihr Engagement diente damals einem Gesetzesentwurf zum Schutz von Opfern sexueller Übergriffe. Am 1. Februar 2021 veröffentlichte Wood nun, die mit Unterbrechungen bis 2010 Lebensgefährtin von Marilyn Manson war, auf Instagram einen Post, in dem sie erzählt, von wem sie mehrere Jahre regelmäßig missbraucht worden sei: „The name of my abuser is Brian Warner, also known to the world as Marilyn Manson. He started grooming me when I was a teenager and horrifically abused me for years. I am done living in fear of retaliation, slander or blackmail. I am here to expose this dangerous man and call out the many industries that have enabled him, before he ruins any more lives. I stand with the many victims who will no longer be silent“.

Wie ein Erdrutsch

Und dann ging es Schlag auf Schlag. Fast stündlich erschienen neue Vorwürfe. Der Amerikaner Dan Cleary, ein ehemaliger Tour-Manager von Marilyn Manson, wies auf Twitter auf einen Post hin, den er bereits im September 2020 abgesetzt hatte: „I worked directly with Marilyn Manson in 2007 - 2008 for his touring band when Evan Rachel Wood was with him. She was on tour with us the entire time. Over the course of 1 year he turned her into a different person. He broke her. I didn’t totally realize until later in life.“

Wenig später tauchte dann das vermeintlich nächste Opfer von Marilyn Manson auf. Evan Rachel Wood warf Marilyn Mansons Ehefrau Lindsay Usich via Instagram vor, Usich habe Ende 2020 versucht, sie mit intimen Bildern zu erpressen. Lindsay Usich und Marilyn Manson sind seit 2020 verheiratet. Usich hat sich zu den Vorwürfen bisher nicht geäußert. Allerdings soll auch sie ein Opfer von Marilyn Manson sein. Die US-Musikerin Otep Shamaya von der Nu-Metal-Band Otep behauptet auf Facebook, sie wisse, dass Marilyn Manson ein Messer nach seiner Ehefrau geworfen habe.

Das bringt uns wieder zurück zum vorhin erwähnten Tour-Manager Dan Cleary, der mit Bezug auf Manson-Ehefrau Usich twitterte: „I then starting working for him as his personal assistant in 2014-2015. I saw first hand, over & over him being an abusive violent boyfriend to his GF Lindsay. Over the almost 2 year stretch I saw her in tears & him screaming & belittling her more often than I didn’t. He would threaten to kill her, cut her up, bury her, embarrass her to the world. Making her cry & fear him made him feel good. He would remind her that she’d be homeless without him and make fun of her learning disabled family member.“

Marilyn Manson selbst reagierte bisher nur mit einem Post auf Instagram: „Obviously, my art and my life have long been magnets for controversy, but these recent claims about me are horrible distortions of reality. My intimate relationships have always been entirely consensual with like-minded partners. Regardless of how - and why - others are now choosing to misrepresent the past, that is the truth“.

Ein wenig Schützenhilfe bekam er von seiner allerersten Ehefrau, der Burlesque-Tänzerin Dita Von Teese. Auch die wählte Instagram für ihr diesbezügliches Statement: "Please know that the details made public do not match my personal experience during our seven years together as a couple. Had they, I would not have married him in December 2005. I left 12 months later due to infidelity and drug abuse.“

Eine andere ehemalige Partnerin von Marilyn Manson will sich Dita Von Teese’ Einschätzung nicht anschließen. Rose McGowan war drei Jahre lang mit Manson zusammen und auch mit ihm verlobt. Die Schauspielerin war eine prominente Stimme der Me-Too-Bewegung und bezichtigte den Filmproduzenten Harvey Weinstein der Vergewaltigung. "I stand with Evan Rachel Wood and other brave women who have come forward. It takes years to recover from abuse and I send them strength on their journey to recovery. Let the truth be revealed. Let the healing begin“, twitterte sie.

Stichwort Harvey Weinstein: Als 2018 die Vorwürfe gegen den Hollywood-Produzenten um sich griffen, wurden auch schon erste Anzeigen gegen Marilyn Manson wegen sexuellen Missbrauchs erstattet. Die Staatsanwaltschaft stellte diese Verfahren aber rasch wieder ein. Dass der unbestritten intelligente Mann, dessen Kunst aus einer Ästhetik des Widerwärtigen gebaut ist, tatsächlich Täter sein konnte, erschien in einer breiteren Wahrnehmung tatsächlich paradox.

Im Unterschied zu Weinstein scheint Mansons missbräuchliches Verhalten primär in Beziehungen seinen Ausdruck gefunden zu haben. Das ist eine viel abgefeimtere, wenn auch üblichere Form der Misshandlung. Das Opfer kann im Rahmen der Beziehung, die meist im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Dominanz sich kontinuierlich radikalisiert, die volle Dimension der ihm zugefügten Gewalt nur schwer wahrnehmen. Dafür sorgt der Täter durch geschickte und zunehmende Manipulation. Das ist ein wichtiger Grund, warum Opfer das groteske Format ihres Missbrauchs erst nach langer Zeit erkennen können.

Evan Rachel Wood at the Los Angeles season three premiere of the HBO series "Westworld" at the TCL Chinese theatre in Hollywood on March 5, 2020

APA/AFP/Chris Delmas

Evan Rachel Wood

Das Magazin Vanity Fair schreibt inzwischen, dass neben Evan Rachel Wood auch noch vier weitere Frauen schwere Vorwürfe gegen Marilyn Manson erheben. Alle vier berichten von einer ähnlichen Strategie, die Manson ihnen gegenüber angewandt habe und die sich grob so zusammenfassen lässt: Zuerst maximale Aufmerksamkeit und „love bombing“, kalkulierter Alkohol- und Drogenmissbrauch und dann, sobald sich ein Vertrauens- und/oder Abhängigkeitsgefühl einstellt, massive körperliche Gewalt, Vergewaltigung, psychischer und sexueller Missbrauch, Erpressung und Morddrohungen.

Marilyn Mansons Label Loma Vista hat inzwischen die Zusammenarbeit mit dem Musiker gekündigt und auch die Bewerbung seines aktuellen Albums eingestellt. Auch die Politik reagierte. Die kalifornische Senatorin Susan Rubio forderte den US-Justizminister Monty Wilkinson und das FBI auf, in dieser Causa aktiv zu werden.

Die Flut an Vorwürfen ist überwältigend, der Missbrauch in den Details noch grausamer als im Fall von Harvey Weinstein. Wir haben es hier mit einem viel komplexeren Drama als im Falle von anderen gräulichen Skandalen in der Unterhaltungsindustrie wie etwa Gary Glitter zu tun.

US shock rocker Marilyn Manson performs in Den Bosch 12 December 2007

AFP PHOTO / ANP PHOTO

Vor allem in den Vereinigten Staaten war Marilyn Manson für Teenager nach wie vor ein überproportional wichtiger Rockmusiker. Sein okkult gerahmter Anarchismus wirkte noch immer als wichtiges Ventil und Gegenpol in einem christlich-fundamental geprägten Mainstream. Besonders im ländlichen Amerika war Marilyn Manson für Kids, die sich nicht über eben erwähnten Mainstream definierten und sich auch oftmals queer fühlten, die erste wahrgenommene Option für eine Identitätsfindung.

Der nun täglich größer werdende Skandal und die Erkenntnis, dass das Spiel mit der Grenzüberschreitung wohl eben kein Spiel war, ist Wasser auf die Mühlen eines konservativen Weltbilds. Der Boulevard hat auch recht flott victim blaming headlines rausgehauen, in die Richtung gehend, „sie war ja auch selber schuld, wenn sie sich mit so jemanden einlässt". Da kommt noch viel Grausliches auf uns zu. In vielerlei Hinsicht.

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