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„The 800“: ein chinesischer Blockbuster aus der Quarantäne

Es war der weltweit erfolgreichste Film im Jahr 2020. Der chinesische Film „The 800“ hat auch Christopher Nolans „Tenet“ beim Erlös an der Kinokasse weit hinter sich gelassen. Allerdings waren im letzten Jahr die Kinos weltweit, bis auf China, geschlossen. Und trotzdem ist die Führung der Volksrepublik nicht ganz zufrieden mit dem Erfolg.

Von Hans Wu

Lange hat das chinesische Publikum auf diesen Film gewartet. Die Geschichte, eine wahre Begebenheit, ist im Reich der Mitte wohlbekannt. Die Neuverfilmung von „The 800“ mit IMAX-Kameras und allem technischen Schnickschnack, der für „Großes Kino“ heutzutage notwendig ist, hat schwer hoffen lassen. Im Juli 2020 sind die chinesischen Kinos nach den Einschränkungen durch die Pandemie endlich geöffnet worden. Im August hat die langersehnte Premiere von „Ba Bei“, wie der Filmtitel im Original heißt, dann stattgefunden.

Ein Filmstart, der aber nicht nur wegen der Pandemie verzögert worden ist, denn eigentlich hätte der patriotische Historienschinken von Regisseur Guan Hu schon 2019 in die Kinos kommen sollen. 2019 feierte die Volksrepublik mit viel Pomp das 70-jährige Jubiläum und es konnte sich noch niemand vorstellen, was ein Virus aus Wuhan weltweit einige Monate später anrichten wird. Es gab andere Gründe, warum der Film ein Jahr gesperrt war, doch dazu etwas später.

Chinesen wie Spartaner

Die Assoziation des Filmtitels zu Zack Snyders filmischem Antikengemetzel „300“ aus dem Jahr 2007 wirkt wie beabsichtigt. Auch die Handlung weist starke Parallelen auf. Beide Filme beruhen auf historischen Ereignissen, hier der althistorische Perserkrieg, dort der Zweite Chinesisch-Japanische Krieg von 1937 bis 1945. Auch die Handlung verläuft nach einem ähnlichen Muster: Underdogs kämpfen gegen die Übermacht der Invasoren, hier Spartaner gegen Perser, dort Chinesen gegen Japaner.

Es ist der Topos vom last one standing, der Gemeinplatz, der in jeder bluttriefenden patriotischen Erzählung funktioniert, egal ob er am Thermopylenpass oder in einem Lagerhaus in Shanghai verortet wird. Doch die Vermutung einer chinesischen Story-Raubkopie ist irreführend. „The 800“ ist die dritte Verfilmung der Geschichte. Die erste fand bereits 1938 statt, die zweite 1976 in Taiwan. Bei allen drei Verfilmungen hat es, neben der Grundstory, einen propagandistischen Hintergrund gegeben, wenn auch mit jeweils ganz anderen Intentionen.

Japaner wie Orks

Die Handlung ist schnell erzählt: 1937, kurz nach dem Ausbruch des Chinesisch-Japanischen Krieges, steht Shanghai vor dem Fall. Nur in einem alten Lagerhaus leistet ein zusammengewürfelter Trupp aus 452 Bauernrekruten, Studenten und chinesischen Elitesoldaten der Übermacht der japanischen Invasoren tapfer Widerstand. Nach außen geben sie, um ihre wahre fragile Truppenstärke zu verschleiern, die Mannschaftszahl von 800 an. Daher der Titel. Es kommt wie erwartet: Vier Tage lang versuchen die Japaner das chinesische Lagerhaus zu stürmen wie in „Herr der Ringe“ die Orks die Festung Helms Klamm. Nicht unbeobachtet, denn in unmittelbarer Nähe, nur durch einen Fluss getrennt, erstreckt sich die internationale Enklave. Ein quasi autonomer und neutraler Stadtteil, der von vielen Expats aus England, den USA, Frankreich, aber auch Deutschland bewohnt ist.

Lebendiger, bunt beleuchteter Teil von Shanhai

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Es ist das mondäne, bunt leuchtende Shanghai, das erste Reihe fußfrei dem barbarischen Todestreiben auf der anderen Seite des Flusses zusehen muss. Hier spiegelt sich das Kinopublikum auf der Leinwand, während es eine der vielen grausamen Episoden der jüngeren chinesischen Geschichte verfolgt. Gerade für den westlichen Zuseher sind es verwirrende Bilder, denn die Helden der Story, die chinesischen Elitesoldaten, sehen aus wie Nazis.

Deutsch-chinesische Freundschaft

Der Grund für den Nazi-Look der chinesischen Soldaten liegt in einer Kooperation des deutschen Militärs mit der nationalchinesischen Armee, die schon in den 1920ern der Weimarer Republik begonnen hatte. Ausgesuchte Truppenteile wurden von Deutschland ausgebildet und ausgerüstet. Eine Waffenhilfe, die spätestens mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor 1941 zu Ende war, als China auf der Seite der Alliierten Hitlerdeutschland, das inzwischen mit dem Japanischen Kaiserreich verbündet war, den Krieg erklärte.

Soldaten

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Das offizielle China ist damals unter der Herrschaft des Kriegsherren Chiang Kai-shek gestanden, der mit seiner Partei, der Kuomintang, ein autokratisches Regime führte. Mit den Kommunisten waren die Nationalchinesen verfeindet, erst die Invasion der Japaner führte zu einem Zweckbündnis. Die Wehrmachtsuniformen wurden ab da gegen Ausrüstungen der Amerikaner ausgetauscht.

Nationalismus im kommunistischen China

Der Zweite Chinesisch-Japanische Krieg in Drama-Form ist seit vielen Jahren Teil der aktuellen visuellen Historiographie der Volksrepublik China. Kinofilme und TV-Serien repetieren ununterbrochen die Erzählung von chinesischen Helden im heroischen Abwehrkampf gegen grausame Japaner. Es geht hier um alte Wunden, denn auch nach 80 Jahren ist das Trauma der Aggression vom Kaiserreich des Tenno nicht überwunden, bedingt auch dadurch, dass die japanische Gesellschaft diesen Teil ihrer Vergangenheit nie wirklich bewältigt hat, dass es auch für das Massaker an der Zivilbevölkerung in Nanking nie eine richtige Entschuldigung gegeben hat.

Doch es ist auch ein anderer Effekt dieser permanenten Mobilmachung der Vergangenheit, der dem Regime in Peking dienlich ist. Es wird Nationalismus geschürt und der ist der beste Klebstoff in einer Gesellschaft unter autoritärer Herrschaft, auch wenn das Wirtschaftswachstum einmal nicht so stark sind.

Soldaten in Formation

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Falsche Zeichen

Es ist die dritte Verfilmung der Geschichte von den wehrhaften Soldaten im Lagerhaus in Shanghai. Die erste von 1938, ein Jahr nach den tatsächlichen Ereignissen, diente der Mobilisierung der Chinesen gegen die Japaner. Die zweite von 1975 wurde unter der nationalistischen Exilregierung auf Taiwan gedreht, der aktuelle Feind damals: das kommunistische China. In der aktuellen Verfilmung aus der modernen Volksrepublik ist der propagandistische Gegner etwas abstrakter angesetzt, mehr geht es um die Beschwörung der eigenen Größe, die aus einer ruhmreichen Vergangenheit geboren sein soll. Und hier beginnen der Probleme der intendierten Erzählung. Es scheitern die gesetzten Zeichen an der tatsächlichen Historie.

In all den Filmen und Fernsehserien sind die Helden fast immer die Nationalisten (die kommunistischen Truppen spielten im Krieg gegen die Japaner tatsächlich eher eine Nebenrolle), also eigentlich die Erzfeinde, gegen die später revoltiert und die nach einem siegreichen Bürgerkrieg 1949 nach Taiwan vertrieben worden sind. Der Kriegsherr Chiang Kai-shek und sein nachfolgender Sohn haben auf der Insel, das zur Republik China erklärt wurde, unter dem Deckmantel einer Scheindemokratie ihr rechtes, autokratisches Regime weitergeführt. Mittlerweile ist Taiwan eine echte Demokratie geworden, aktuell regiert eine liberale Präsidentin, geblieben sind aber die Hoheitszeichen der alten Kuomingtang. Und diese sind auch bei „The 800“ zu sehen.

Vom Lagerhaus steigt Rauch auf

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Chinas Problem mit Taiwan

Taiwan ist ein de facto unabhängiger Inselstaat, der offiziell Republik China heißt. 1949 hat sich das Kuomingtang-Regime unter Chiang Kai-shek nach seiner Niederlage im Bürgerkrieg gegen Mao Tse-Tung dorthin zurückgezogen. Die autokratische Regierung war bis 1971 als offizielles China in der UNO vertreten, der Sitz wechselte dann zur Volksrepublik China. Wichtige Entwicklungen waren der wirtschaftliche Aufstieg und die Demokratisierung seit den 1990ern. China sieht Taiwan als abtrünnige Provinz. Die Beziehungen zur Volksrepublik China haben sich nach der Wahl der liberalen taiwanesischen Präsidentin Tsai Ing-wen 2016 wieder verschlechtert. Auch die Covid-19-Pandemie hat die Ressentiments auf beiden Seiten verstärkt. In den letzten Monaten häufen sich die militärischen Drohgebärden der Volksrepublik gegenüber Taiwan.

Die unsichtbare Fahne

Am Höhepunkt des Films wird unter Dauerbeschuss der Japaner eine Fahne gehisst. Ein heroisches Zeichen auch für die Bewohner der internationalen Enklave am anderen Ufer, eine bildliche, chinesische Variante von „that our flag was still there“, einer Zeile aus der US-Hymne. Das propagandistische Problem dabei, es ist natürlich nicht die rote Fahne mit den gelben Sternen der Volksrepublik China, sondern die der Republik China, die heute noch über Taiwan weht. Und obendrein erklingen in der pathosgetränkten Szene noch ein paar Takte der „San Min Chu Yi“, der Nationalhymne des Inselstaates, der von der Volksrepublik noch immer als abtrünnige Provinz angesehen wird.

Es sind versteckte Zeichen, denn die Hymne ist am Festland kaum bekannt, die Fahne ist nie deutlich zu sehen. Ohnehin dürften die Zensoren ordentlich Hand angelegt haben. Tatsache ist, der Film ist nicht 2019, wie geplant, in die Kinos gekommen, offiziell verschoben aus technischen Gründen. Die Originalfassung soll dem Vernehmen nach 13 Minuten länger gewesen sein. Wie diese genau ausgesehen hat, werden wir wohl nie erfahren.

Kriegsszene in den Straßen von Shanghai

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Ein chinesisches Dunkirk?

Übrig bleibt ein bildlich beeindruckend gedrehtes Kriegsepos. Schade ist es um die Entwicklung der einzelnen Charaktere, diese verschwinden unter der dicken Schicht an Pathos und Gewalt. Wenn man den andauernden Schlachtenlärm aushält, erschließen sich doch etliche gute Momente, bis man nach zweieinhalb Stunden zum großen Finale kommt, das überraschenderweise nicht den erwarteten Heldentod zeigt.

„The 800“ ist von Koch Media digital releast worden und erscheint im April auf DVD und BluRay.

Um hier den Kreis wieder mit Christopher Nolan zu schließen: „The 800“ wird gern als chinesisches „Dunkirk“ bezeichnet. Das ist nicht ganz falsch. Vergleichbar ist der Interpretationsspielraum für das Publikum. „Dunkirk“, auch eine Geschichte über das Aushalten im Krieg, ist damals sowohl von Brexit-Gegnern als auch von Brexit-Befürwortern als ihr Film gefeiert worden. Und so ist auch „The 800“ nicht nur als Propagandastück der Volksrepublik China lesbar. Die junge Hongkong-Opposition könnte hier Identifikationspunkte finden. Oder die Taiwanesen, die aktuell wieder mit militärischen Drohgesten von der Volksrepublik China drangsaliert werden. Es sind schließlich ihre Zeichen, die im Film vorkommen.

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