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Baum im Schnee

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Insel der Dankbaren

Ihr neidet mir vermutlich mein Leben auf dem Eiland der Erstgeimpften, und ich hab schon wieder was zu nörgeln. Ich, Elton John, Colin Greenwood, die britische Modeindustrie, die Frächter und natürlich wieder einmal die Fischerei, sonst scheinbar eh niemand.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Die gute Nachricht zuerst: Es war schon lange nicht mehr so günstig, nach London zu ziehen, die Mieten sollen schon um zehn Prozent gesunken sein, Tendenz weiter fallend.

Die schlechte Nachricht für mich: Ihr könnt und wollt auch gar nicht kommen.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Da seid ihr nicht allein, denn laut einer Studie des bescheiden benannten Economic Statistics Centre of Excellence haben im vergangenen Jahr 700.000 im Ausland geborene Londoner*innen die Stadt verlassen.

Das bedeutet den größten Bevölkerungsrückgang seit den deutschen Bombardements im Zweiten Weltkrieg, da hätten wir also einmal ausnahmsweise einen Anlass, wo der hier immer so populäre Kriegsvergleich sogar angebracht wäre, wenngleich nicht auf schmeichelhafte Art.

Baum im Schnee

Robert Rotifer

Die ländlichen Joy-Division-Vibes der Bebilderung hier habe ich neulich auf einem schneebedeckten Feld in Kent eingefangen. Sowas sieht man hier nicht oft.

Als wahrscheinlichsten Grund für die Abwanderung nennt die Studie die Coronakrise, was bedeuten würde, dass 700.000 Leute sich anderswo sicherer oder besser versorgt fühlen als in London.

Ich weiß ja nun nicht, wie viele Rich Kids von auswärts im East End Slumming auf hohem Niveau betrieben und 2020 zu Mama und Papa heimgekehrt sind, aber dass sie acht Prozent der Gesamtbevölkerung Londons ausgemacht hätten, fällt mir schwer zu glauben.

Vielleicht hatte die Motivation hinter dieser Flucht (nicht nur aus der Metropole, insgesamt verlor Großbritannien 1,3 Millionen Zugewanderte) doch auch mit was ganz anderem zu tun.

Vielleicht was, das mit B beginnt und nach karg-trockenen Frühstücksflocken klingt, könnt ich mir vorstellen.

Dabei hat uns Michael Gove erst vorgestern wissen lassen, dass Großbritannien bisher 4,3 Millionen EU-Bürger*innen Settled Status zugesprochen habe (bei 4,9 Millionen Ansuchen - was mit den restlichen 600.000 passiert, verriet er nicht).

Das, sagte er, strafe „so manchen Unsinn Lügen“, wonach das Brexit-Votum das UK „weniger einladend“ gemacht habe „oder EU-Bürger*innen wegziehen, die Unis oder der Gesundheitssektor Schaden erleiden würden“.

Wie geht das jetzt zusammen mit dem Exodus, wollt ihr womöglich wissen.

Zunächst einmal sind Goves Zahlen schon ziemlich erstaunlich, waren wir doch bisher immer von 3 bis 3,5 Millionen EU-Einwander*innen in Großbritannien ausgegangen. Andererseits sagen sie rein gar nichts darüber aus, wie viele Leute, die sich sicherheitshalber den Settled Status besorgten, seither erst recht verzogen sind, als Teil erwähnter 1,3 Millionen.

So oder so, ihr wollt nicht kommen, ich verstehe.

Ich hab mich hier übrigens noch gar nicht entschuldigt für meine längere Pause von dieser Kolumne. Ganz ehrlich gesagt bin ich ein wenig abgetaucht, als die schmutzige Geschichte rund um den AstraZeneca-Impstoff hier durch die Medien lief.

Selbst für einen echten Sucker for Selbstbeschädigung wie mich, der bis zum Leberversagen Junk-News freebaset, war mir der vor triumphalistischem Nationalwahn und plumpester Desinformation triefende Stoff, den sie uns hier derzeit reindrücken, einfach zu hochkonzentriert.

Mit ein bisschen Distanz lässt sich aber schon auch was daraus lernen, vor allem, was die schiere Macht des Medienmanagements in einer vorgeblich freien Gesellschaft angeht. Disclaimer wie üblich: Wer will, kann daraus Parallelen darauf ableiten, was ihr selbst erleben mögt.

Baum im Schnee

Robert Rotifer

Und noch was: Ihr werdet merken, dass einige der Hyperlinks hier neben dem gewohnten, elitären Minderheitenprogramm von Guardian/Observer/Independent/Financial Times auch zu durchaus kritischen BBC-Online-Stories führen.

Ihr könntet daraus schließen, meine Darstellung der Wahlheimat als eine Art Nordkorea-upon-Thames sei einen Deut überzogen.

Aber ihr müsst mir vertrauen, dass diese Berichte weit unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung fliegen, während die Bank of England uns direkt per Headline News einen fantastischen Boom nach der Krise voraussagt.

Jam tomorrow sagt man hier traditionell zu dieser bei hartem Brot auf morgige Marmelade verweisenden Motivationstaktik, sie ist also zugegebenermaßen nicht neu.

Die offizielle Zahl an Covid-19-Toten in Großbritannien hat indessen gestern unfassbare 113.000 überschritten, und doch könnte man als unschuldiger Konsument einer vom Impfstoff-Überfluss saturierten Nachrichtendiät glauben, wir lebten auf einer von der weitsichtigen Weisheit ihrer Obrigkeiten gesegneten Insel der Dankbaren.

Was hat es gegen diesen vielgefeierten (vermeintlichen) Brexit-Bonus schon groß zu bedeuten, wenn etwa genau jene Fischereiindustrie, um die man doch so tapfer gekämpft hat, im Papierkrieg des neuen „Freihandelsabkommens“ erstickt bzw. der Export von Krustentieren überhaupt vollständig zum Erliegen kommt? Sind die inländischen Austern dafür nicht umso billiger geworden? (Sie sind es!)

Wen kümmern Anzeichen eines verheerenden Einbruchs des Handels mit den nächsten Nachbarn, wenn Michael Gove uns doch einst legendärerweise erklärte, das Volk dieses Landes habe genug von Exporten, äh... Experten (bitte um Verzeihung, aber nur weil ALLE diesen Witz machen, ist er noch lange nicht schlecht).

Er, der das neuliche Hüpfen der Impfstoff-neidischen EU-Kommission mitten in den Fettnapf der irisch-nordirischen Grenze zum Anlass eines von hochheiliger Empörung beseelten Briefchens an deren Vizepräsident Maroš Šefčovič nahm, in dem er flugs Konzessionen an Großbritannien zur Bedingung für den Frieden in Nordirland machte.
Vermutlich nur, um kurz einmal zu testen, was die damit gewonnenen Headlines sein Land post Brexit an wertvollem guten Willen kosten könnten.

Einiges, lautet die Antwort (die letzten zwei Hyperlinks hier führen zu Tony Connelly vom irischen öffentlich-rechtlichen RTÉ, dieser Tage eine lebenswichtige englischsprachige Parallelwelt zur hiesigen Berichterstattung).

Am Schönsten war Goves gestriger Vergleich des Brexit mit den Turbulenzen nach dem Abheben im Düsenflieger: „Am Ende erreicht man eine Reiseflughöhe, und die Crew sagt einem, dass man seinen Sitzgurt abnehmen und einen Gin & Tonic mit Erdnüssen genießen kann. Wir sind noch nicht im Stadium von Gin & Tonic und Erdnüssen angelangt, aber ich vertraue darauf, dass wir da hinkommen.“

Wo immer Michael den Comedown von diesem Bordmenü-High nach der Landung mit ehrlicher, britischer Hausmannskost abzufangen gedenkt, er wird sich als praktizierender Patriot in Brüssel keine britischen Keks mit Vanillefüllung und in Amsterdam nur mehr gefrorene britische Würste oder Speck besorgen können (während am Hafen von Rotterdam Tonnen von britischem Fleisch verrotten).

Dabei sind die geleerten Regale der von Importbeschränkungen betroffenen, britischen Expat-Lebensmittelläden auf EU-Boden nur eine kleine Vorahnung dessen, was uns hier auf der Insel erwartet, sobald einmal ab April die einstweilen noch ausgesetzten britischen Importhürden für Produkte aus der EU in Kraft treten.

Man könnte meinen, die Warnungen der örtlichen Lebensmittelversorger vor einem kommenden Desaster wären auch einem größeren Publikum jenseits der woken, Hafermilch trinkenden Guardian-Leser*innenschaft eine Meldung wert.

Nicht so im Nordkorea-upon-Thames des kalten Kulturkriegs, wo dem Feind nützliche Informationen strikt rationiert werden und selbst der Heldentod des 100-jährigen Charity-Soldaten Captain Tom (am selben Tag wurden hier mehr als 1.400 weitere Covid-19-Opfer verzeichnet) noch zum PR-Coup für die Regierung gereicht. Eine Statue zu seinem Gedenken müsse her, sagte der Premierminister und brachte damit gleich noch einen unterschwelligen Tritt ins Knie der den Stolz des Empire beleidigenden Statuenstürzer*innen unter, weil er in solchen Dingen uncharakteristisch gründlich ist.

Und tatsächlich, die jüngsten Umfragen sagen, dass derzeit 43 Prozent für seine Partei stimmen und seine Parlamentsmehrheit damit noch erhöhen würden. Die Strategie des insularen Informations-Managements scheint also voll aufzugehen.

Einstweilen schreibt sich die woke, Hafermilch trinkende, kosmopolitische Citizens-of-Nowhere-Elite des Musikbusiness im Guardian-Ghetto die Finger wund und beklagt die desaströsen Folgen des Brexit-Deals für ihre Branche, von Radioheads Colin Greenwood bis zu Elton John. Beide übrigens höchst lesenswert, sage ich jetzt, um mir hier die Erklärung von so bösen Dingen wie Carnet und Cabotage zu ersparen, die selbst nach der Pandemie sicherstellen sollten, dass ihr Bands wie Black Country, New Road eher nie live erleben werdet.

Die zuständige Ministerin hat erklärt, dass ein gegenseitiges Übereinkommen mit der EU zugunsten reisender Musiker*innen nicht mit „dem Geist des Brexit“ vereinbar gewesen wäre.

Das ist zumindest einmal ehrlich und gilt übrigens auch für die britische Modebranche. Deren verzweifelter offener Brief, der vor ernsthaften Existenzbedrohungen für Models, Designer*innen und Hersteller*innen warnt, verschwand überhaupt gleich hinter der Paywall der Financial Times. Es geht ja auch um nichts, faktisch.

Nennt mich naiv, aber wieder einmal und immer noch und jedes Mal von Neuem bläst es mich weg, was alles so reingeht. So gesehen könntet ihr euch dann ja vielleicht hier doch wieder heimisch fühlen. Wie eingangs gesagt, Platz wäre da, Hafermilich haben wir für alle (bis mindestens April), und mit den Mieten schaut’s auch gerade gut aus.

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