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„Erste Person Singular“ - Murakamis neuer Erzählband

Ein schmales Buch mit acht Kurzgeschichten ist die aktuelle Veröffentlichung des gefeierten japanischen Autors. Geheimnisvoll, unterhaltsam und leider auch misogyn.

Von Christian Pausch

Es geht um Erinnerungen, wie so oft bei Haruki Murakami. Das menschliche Gedächtnis und die damit verknüpften Emotionen stehen im Mittelpunkt der Kurzgeschichten in dem Band „Erste Person Singular“. Warum erinnert man sich an manche zuerst unbedeutend und klein wirkende Momente ein Leben lang und andere vergisst man sofort? Warum bleiben manche Menschen, Sätze oder Gesten für immer gespeichert, während man sich an andere beim besten Willen nicht erinnern kann?

Sie glauben mir wohl nicht? Das sollten Sie aber, denn es ist wirklich so passiert.

Die acht Geschichten sind, wie der Titel schon andeutet, aus der Ich-Perspektive geschrieben und so stellt sich auch die Frage danach, ob nur die eigene Erinnerung zählt. Erinnert man sich selbst immer am besten, oder sind Erinnerungen eine Aufgabe für mindestens zwei Personen? Gewohnt geistreich und mysteriös macht sich Murakami daran, diese Fragen in den Raum zu stellen.

Ich - 私 - 俺 - 僕

In der japanischen Sprache gibt es viele Wörter für „ich“. Wenn man in der ersten Person Singular schreibt, ist für Leser*innen durch das jeweils gewählte Ich schnell viel mehr klar als im Deutschen: ob die erzählende Person ein Mann oder eine Frau, jung oder alt ist und auch, welchen gesellschaftlichen Rang man hat oder eben nicht hat.

In der gesprochenen Sprache ist das ebenso. Die LGBTIQ* Community in Japan macht sich beispielsweise die verschiedenen Ich-Worte auf ihre Art zu eigen und so kann man, je nachdem, als welches Gender man gelesen werden will, ein männliches, weibliches oder eher neutrales Wort für „ich“ verwenden. Das Gegenüber muss sich dann im Gesprächsfluss wohl oder übel anpassen.

In Haruki Murakamis neuen Geschichten ist das Ich oft als identisch mit dem Autor zu verstehen. Das war in seinen bisherigen Büchern zwar auch schon immer naheliegend, aber nur selten wirklich der Fall. Diesmal wird in einer Geschichte sogar explizit sein Name genannt und das gleich drei Mal hintereinander:

„Glücklicherweise hatte ich einen Freund, der eine Druckerei betrieb, sodass die Herstellung mich nicht übermäßig viel kostete. Heraus kam ein einfach gebundenes Buch in einer Auflage von fünfhundert Exemplaren, die ich sämtlich mit einem besonderen Stift signierte. Haruki Murakami, Haruki Murakami, Haruki Murakami, ...“

Nachhall, Jazz und ein Affe

Murakami bzw. seinem lyrischen Ich begegnen in den acht Kurzgeschichten die verschiedensten Menschen und Begebenheiten. In einer Erzählung trifft er den Bruder einer Schulkollegin, den er seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hat, in einer anderen findet er in einem Plattenladen in New York eine Jazz-Platte, die es eigentlich gar nicht geben sollte, und in einer weiteren Geschichte badet er mit einem sprechenden Affen, der philosophisch gewandt zu ihm sagt:

„Ich glaube, dass die Liebe der Brennstoff ist, der uns am Leben hält. Vielleicht endet die Liebe eines Tages. Oder sie trägt Früchte. Aber selbst, wenn die Liebe verblasst, selbst wenn sie verschwindet, bleibt uns die Erinnerung, jemanden geliebt zu haben. Und diese Erinnerung wird uns zu einer kostbaren Quelle der Wärme.“

Murakamis problematisches Frauenbild

Ein großer Kritikpunkt am Werk Murakamis muss das oft misogyne Frauenbild des Autors sein, das sich auch in „Erste Person Singular“ wieder zeigt. Frauen und Mädchen gibt es bei ihm meist nur in zwei Rollen: als unerreichbare, keusche Wunderwesen oder als lasterhafte Nymphomaninnen. Eine Frauenrolle, die irgendwo dazwischen liegt oder gar ganz andere Züge hat, kann sich der Autor nur selten ausdenken und das ist, gelinde gesagt, schade.

Hier muss auch die Mainstream-Literaturkritik in die Mangel genommen werden, denn dass Frauen in Murakamis Erzählungen oft nur auf reine Körperlichkeit reduziert werden, wird vom Feuilleton totgeschwiegen. Auch bei der Besprechung des vorliegenden Buches. Dabei sticht seine Frauenfeindlichkeit besonders in der Erzählung „Carnaval“ mal wieder überdeutlich hervor, in der er seitenweise die Hässlichkeit der anonymisierten Protagonistin F* beschreibt:

„Bei der Begegnung mit F* kam mir als Erstes in den Sinn, was für eine ausnehmend hässliche Frau sie war. (...) Und während wir plauderten, gewöhnte ich mich, anders kann ich es nicht sagen, an ihr Aussehen, sodass ich gar nicht mehr darüber nachdachte. (...) F*s Aussehen war das Ergebnis mehrerer Formen von Hässlichkeit, die unter einer Art feierlicher Übereinkunft an einem bestimmten Ort versammelt und unter einem besonderen Druck kristallin geworden waren.“

Buntes Buchcover mit dem Namen des Autors

Dumont

„Erste Person Singular“ von Haruki Murakami, aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe, ist im Dumont Verlag erschienen.

Die Geschichte endet natürlich damit, dass die beiden trotzdem (sic!) zueinander finden, denn sie verbindet eine Liebe zu Schumanns Klavierzyklus „Carnaval“. Die Hochkultur rettet - wie so oft bei Murakami - den jungen männlichen Ich-Erzähler, der so über die vermeintlichen Makel der Frauenfigur hinwegsehen kann. Es wäre dringend an der Zeit, Murakamis Erzwählweise in Bezug auf Frauen genauer zu untersuchen und auch öffentlich zu besprechen.

Empfehlung mit Einschränkung

Dass einem das Büchlein „Erste Person Singular“ dennoch auch Freude bringen kann, soll nicht ausgeschlossen werden. Die großen Themen Erinnerung, Liebe, Jugend, Einsamkeit, Tod und Musik - wie man sie von Murakami gewohnt ist - gehen uns alle etwas an und werden wunderbar beschrieben.

Wir Menschen können das ja: etwas gut finden und es gleichzeitig kritisieren, da spricht nichts dagegen. Aber es wäre natürlich schöner, wenn Murakamis Erzählungen in Zukunft ohne sein problematisches Frauenbild auskommen würden.

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