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Bernardine Evaristo posiert mit einem Buch bei den Booker Awards, den sie später gewinnen sollte

APA/AFP/Tolga AKMEN

Buch

Bernardine Evaristo macht Schwarze Frauen in der britischen Literatur sichtbar

Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat einmal gesagt: „If there’s a book you want to read, but it hasn’t been written yet, then you must write it.” Genau das hat Bernardine Evaristo gemacht und „Mädchen, Frau etc.“ geschrieben. Darin schaut sie auf das Leben von 12 Schwarzen Frauen und nicht-binären Personen in Großbritannien über die Generationen und Jahrzehnte hinweg.

Von Diana Köhler

Amma, Yazz und Dominique. Carole, Bummi und LaTisha. Shirley, Winsome und Penelope. Morgan, Hattie und Grace. 12 Frauen und nicht-binäre Personen, quer durch die gesellschaftlichen Klassen, beschreibt Bernardine Evaristo in ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“ Sie decken eine Alterspanne von 19 bis 93 Jahren ab, die Leser*innen begleiten die Protagonist*innen ein Stück ihres Lebens und werfen Blicke auf prägende Momente in ihren Vergangenheiten.

Gegen das Establishment

Die Geschichte beginnt mit Amma. Sie steht kurz vor der Premiere ihres ersten Stücks am Londoner National Theatre. Lange hat sie zusammen mit ihrer Freundin Dominique gegen das weiße, rassistische Theater-Establishment gekämpft. Mit ihrem Kollektiv dem „Bush Women Theater“ sind Amma und ihre Mitstreiterinnen im London der 80er-Jahre unterwegs. Sie sind Schwarze, queere Feministinnen, leben und lieben in besetzten Häusern, oft mit mehreren Liebhaberinnen gleichzeitig.

Buchcover von Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ Darauf zu sehen ist die Silhuette einer Schwarzen Frau mit großem Kopftuch

Tropen Verlag

Erschienen ist „Mädchen Frau etc.“ beim Tropen-Verlag. Übersetzt hat es Tanja Handels.

„Sie wollten ihre Stimme da erheben, wo es im Theater bisher still gewesen war. Die Geschichten schwarzer und asiatischer Frauen würden ein Forum finden, sie würden zu ihren eigenen Bedingungen Theater machen. Das wurde das Motto der Truppe: Zu unseren Bedingungen oder gar nicht.“

Lange hat es gedauert, bis Amma die Anerkennung als Theaterregisseurin vom Establishment bekommt, die sie sich trotzdem all die Jahre heimlich gewünscht hat. Ihre kluge und abgeklärte Tochter Yazz hat das gleich durchschaut. Sie beschuldigt ihre Mutter immer wieder an der Gentrifizierung im Viertel, die sie selbst kritisiert, mitschuldig zu sein. Yazz selbst ist ganz anders als ihre Mutter. Sie chillt lieber mit ihren Freundinnen in ihrem Zimmer an der Uni, wo sie politische Diskussionen über Privilegien, Rassismus und Literatur führen. Die polyamoröse Dreierbeziehung ihrer Mutter findet sie eher unnötig stressig und die Zukunft ist für sie nicht feministisch, sondern nicht-binär. An Yazz und Amma werden auch besonders die feministischen Generationenkonflikte sichtbar, die sich durch das ganze Buch ziehen.

Leistungsnarrativ

Die Figur Carole dagegen kümmert sich weniger um gentrifizierte Stadtteile. Sie ist vom Problemkind einer Problemschule zur Oxfordabsolventin und Bankerin aufgestiegen. Ihre Mutter Bummi ist alleine aus Nigeria nach England gekommen aber ihr ausgezeichneter Abschluss in Mathematik hat im neuen Land niemanden interessiert. Nun muss sie zusehen, wie ihre Tochter die nigerianischen Wurzeln mehr und mehr zu verschleiern versucht. Carole manövriert ihr Leben geschickt, aber unter großem Druck.

„Sie ist es gewöhnt, dass Kunden und neue Kollegen an ihr vorbei, hin zu denjenigen schauen, die sie offensichtlich erwartet haben. Sie marschiert dann immer direkt auf den Kunden zu, drückt ihm fest (und doch feminin) die Hand, blickt ihm dabei warm (und doch selbstbewusst) in die Augen, lächelt unschuldig und stellt sich ihm in lupenreinem Standardenglisch vor, präsentiert ihre hübschen (zum Glück nicht zu dicken), in dezentes Rosa gehüllten Lippen, zeigt ihre perfekten Zähne und übernimmt, während er sich noch mit diesem Zusammenprall zwischen Erwartung und Realität arrangiert und das zu verbergen versucht, die Kontrolle über Gesamtsituation und Gespräch.“

Teil der Mittelschicht

Lehrerin Shirley hat damals in der Schule Caroles Intelligenz und Begabung entdeckt. Sie hat es geschafft, Carole vom „falschen“ auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Für Shirleys eigene Eltern hieß dieser Weg immer Bildung und Leistung. Doch dass Shirley als Schwarze Frau und Einwandererkind mehr leisten muss als weiße Mitbewerber*innen, will sie nicht so ganz wahrhaben.

„Shirley versucht, sich nicht beherrschen zu lassen von der Paranoia, die dadurch entsteht, dass sie jede negative Reaktion gleich ihrer Hautfarbe zuschreibt. Ihre Mutter hat ihr erklärt, sie werde nie sicher wissen, warum Menschen etwas gegen sie hätten, solange sie es ihr nicht klipp und klar sagten. Geh nicht immer gleich davon aus, dass die Leute dich nicht mögen, weil du schwarz bist, Shirl, vielleicht haben sie auch einfach einen schlechten Tag oder sind generell missmutig.“

Immer nahe am Burn-Out vorbeischrammend, verzweifelt die einst idealistische Shirley am bürokratischen Schulsystem. Das merkt auch ihre Freundin Amma, die Theaterregisseurin.Sie versteht nicht, warum die konservative Shirley so Vieles einfach erträgt und sich lieber am Abend Serien anschaut, als politische Fragen zu reflektieren. Shirley ihrerseits will einfach ein normales, ruhiges Leben führen und dazugehören, zur weißen Mittelschicht Englands. Trotzdem sind Amma und Shirley Freundinnen seit Volksschultagen. Und so sind alle Figuren auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden.

Sie alle manövrieren in einer Welt, die von Weißen dominiert ist. Meist von weißen Männern. Jede der Frauen hat andere Strategien und Werkzeuge, um sich darin zurechtzufinden, ob Rebellion, Anpassung oder Leistung oder, oder.

Den britischen Literaturkanon diverser machen

Um den Charakteren im Buch Tiefe zu verleihen, greift Bernardine Evaristo auch auf ihre eigenen Erfahrungen zurück. Evaristo war in den 80ern selbst in der queeren Theaterszene unterwegs. Viele der Kämpfe ihrer Figuren waren und sind auch ihre eigenen.

Sind die Leser*innen unter 30, fällt jedoch eine einzige vielleicht kritikwürdige Sache auf: Die Figuren sind zwar authentisch, doch wenn die knapp 60-jährige Bernardine Evaristo jüngere Charaktere auftreten lässt, klingt es so: Eine ältere Frau, die versucht zu beschreiben, worüber die Youngsters heutzutage sprechen. Und auch wenn sie teilweise recht hat, weiß sie offensichtlich nicht, dass junge Erwachsene eigentlich nur mehr ironisch „lol“ sagen. Doch das könnte auch an der Übersetzung liegen und wir wollen Bernardine Evaristo dieses kleine Detail bei einem sonst großartigen Buch großmütig verzeihen.

Als Schwarze Woman of Colour hat es Bernardine Evaristo schon lange frustriert, dass Schwarze, britische Frauen in der Literatur Großbritanniens kaum sichtbar waren. Aber das ändert sich langsam und Bernardine Evaristo trägt einen Teil dazu bei. Denn als erste Schwarze Frau hat sie 2019 den Booker Prize gewonnen. Das ist der wichtigste britische Literaturpreis.

Evaristo schreibt ohne Punkt am Ende ihrer Sätze, kreiert eigene kleine, visuelle Skulpturen aus Worten mit ihrem Text. Sie schafft mit „Mädchen, Frau etc.“ einen wertvollen Beitrag zu einem neuen, diverseren Literaturkanon und erkundet darin die verborgenen Erzählungen und Aspekte der afrikanischen Diaspora Großbritanniens in großer Vielfalt.

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