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Unterhose mit Union Jack Muster

OLI SCARFF / AFP

ROBERT ROTIFER

„Diese Leute gehören gefeuert!“

Ein Interview illustriert, wie es dazu kommen konnte, dass Großbritannien dem Traum von der Souveränität seine kreativen Industrien opfert: Als BBC Today heute morgen mit Katharine Hamnett über die verheerenden Folgen des Brexit sprach.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Vorneweg: Ist nicht ganz Journalismus, wenn man anderer Leute Interviews im Volltext abtippt, das geb ich zu, aber bisweilen sagt der Wortlaut mehr als die Weitergabe des Inhalts, ja manchmal ist so ein Interview fast sowas wie ein kleines Dramolett, in dem so viel anderes mitschwingt über die Welt und die Zeit, in der es stattfindet (was genau, ist in der untenstehenden Abschrift eines vielsagenden Beispiels in Klammer und kursiv zu lesen).

Heute morgen jedenfalls hörte ich, weil ich mich gerade stark genug dafür fühlte, wieder einmal das Today Programme, die dreistündige, tägliche Flaggschiffsendung der BBC-Radionachrichten, die hier immer noch eine ziemlich einflussreiche Rolle spielt, in letzter Zeit auch dahingehend, worüber alles lieber nicht berichtet wird.

In diesem Kontext war’s schon ziemlich spektakulär, dass in der heutigen Ausgabe die verdiente Modeschöpferin Katharine Hamnett zu Wort kam, um über die Auswirkungen des vollzogenen Brexit zu reden. Schließlich – ich habe mich hier neulich erst drüber ausgelassen - ist dieses Themenfeld für die BBC derzeit ein bisschen tabu, zumal man doch das eigene Land nicht schlecht reden darf.

Nun ist Katharine Hamnett ja nicht zuletzt für ihre Manifeste einer ethischen, nachhaltigen Mode und für ihre aktivistischen T-Shirts mit Slogans in fetten Lettern schwarz auf weiß (manchmal umgekehrt) berühmt, spätestens seit 1983, als George Michael bei Wham! ihre Parole „Choose Life“ auf der Brust trug (inspiriert von gewaltfreien Lehren des Buddhismus, definitiv nicht von der Pro Life-Bewegung). In den letzten paar Jahren druckte Hamnett unter anderem T-Shirts mit den Aufschriften „CANCEL BREXIT“, „FASHION HATES BREXIT“ und „SECOND REFERENDUM NOW“.

Was nicht nur ihren eigenen Standpunkt klärt, sondern auch beweist, dass ihr politischer Einfluss bzw. der der fast einstimmig Brexit-skeptischen Modebranche doch eher geringer ist, als man sich vorgegaukelt haben mag. Aber seit Inkrafttreten des EU-Austritts geht es nicht nur darum, die Allgemeinheit vom Guten und Richtigen zu überzeugen, sondern auch um das blanke Überleben der Modebranche selbst.

Nähmaschine mit UK Flagge

APA/AFP/OLI SCARFF

Ich übergebe also das Wort an Justin Webb, Moderator von Today und als solcher ein Vertreter der Interviewschule, die meint, sie müsse die Formulierung ihrer Fragen an den Interessen des imaginären (in dieser vorgeblich unelitären Imagination seltsamerweise grundsätzlich unwissend gedachten) Mensch von der Straße orientieren.

Darüber hinaus ist Webb auch ein Meister des herablassenden „Mhm“, das im folgenden Gespräch allerdings nur einmal zum Einsatz kam.

Justin Webb: „Es ist 23 Minuten vor neun. Etwas wirklich Furchtbares geschieht in der Welt der Mode. Das ist, was die Industrie uns sagt. Sie beschwert sich, dass neue Regelungen im Handel, die von der EU in Kraft gesetzt werden, ihre Fähigkeit zerstören, auf dem Kontinent ein- bzw. an ihn zu verkaufen.

(Man beachte wie immer das Framing: Er sagt „being enforced by the EU“, hier von mir interpretiert als „von der EU in Kraft gesetzt“, man könnte auch „durchgesetzt“ oder „erzwungen“ sagen. Aber wie immer man das übersetzt: Es ist in Wahrheit nicht die EU, die das bestimmt, sondern der gegenseitige Handelsvertrag, den die britische Regierung mit der EU ausverhandelt hat – und dessen verpflichtende Umsetzung die britische Seite beim Import übrigens großteils noch bis April ausgesetzt hat.)

Ich habe Katharine Hamnett an der Leitung, die Mode-Designerin. Good morning to you!“

Katharine Hamnett: „Good morning.“

Webb: „Geben Sie uns zunächst einen Umriss der Lage. Was passiert eigentlich, was läuft schief?“

Hamnett: „Nun, ich denke, die Regierung nahm die Bekleidungsindustrie nie ernst, ungeachtet der Tatsache, dass sie 32 Milliarden Pfund umsetzt und sechs Mal so groß ist (sic! Es sind sogar gut 20 mal) wie die Fischerei-Industrie. Und daher wurden die Regeln, um irgendwohin, aber besonders in die EU zu exportieren, nicht durchdacht. Offensichtlich funktionieren Ziegel und Mörtel derzeit nicht (“bricks and mortar“ - Ziegel und Mörtel, sprich „Gebäude“, sprich in diesem Fall: der physische Handel). Das Online-Geschäft dagegen funktioniert sehr gut, oder tat es zumindest, in der Pandemie. Aber wenn die Leute jetzt Kleidung nach Europa verschiffen, stellen sie fest, dass man ihnen 30 Prozent Bearbeitung und Mehrwehrtsteuer verrechnet, was bei einem T-Shirt für 30 Pfund 15 Pfund (sic! Sie meint 10) ausmacht, und bei einer Jacke um 300 Pfund sind das schon 100 Pfund.

(Stimmt nicht ganz: Seit dem Brexit wird die Mehrwertsteuer im jeweiligen Zielland verrechnet. Falls ihr den Mut habt, auf einer britischen Website zu bestellen, sollte also bei Verwenden einer EU-Lieferadresse eigentlich die britische Mehrwertsteuer WEGFALLEN. Sonst müsstet ihr sie ja zweimal bezahlen, einmal im UK und einmal in Österreich. Im UK liegt die MwSt. für die meisten Textilien bei 20 Prozent. Die Jacke sollte euch also auf der Website nur 240 Pfund kosten, nicht 300. Sobald sie ankommt, müsst ihr bei Lieferung – also vermutlich am Postamt - österreichische Mehrwertsteuer bezahlen. Dazu kommt allerdings noch die von Hamnett angesprochene Bearbeitungsgebühr, deren Höhe von Land zu Land und je nach Postweg wild variieren kann und nicht direkt mit dem Preis der Lieferung korreliert. Das macht die Bestellung unberechenbar teurer.)

Die Leute rechnen nicht damit, es ist nicht in ihrem Kostenplan, die Artikel werden zurückgeschickt, die Verkäufe sinken. Und wenn die Artikel zurückgeschickt werden, wird manchmal dem/der englischen Hersteller*in noch eine weitere Mehrwertsteuer verrechnet (natürlich nicht zurecht, aber viel Spaß beim Erkämpfen der Rückerstattung). Es ist das totale Chaos.

Webb: Bei einer kleinen Firma könnte das bedeuten, dass man in Gefahr läuft, pleite zu gehen.

Hamnett: Ich glaube, jede*r, der/die in die EU exportiert, hat Probleme. Die Profitabilität wird niedergemetzelt. Aber da gibt es auch noch andere Themen, wie etwa den Platz der Textilarbeiter*innen auf der Liste der Berufsvisa: Ausländischen Textilarbeiter*innen ist es nicht erlaubt, im UK zu arbeiten. Das UK hat stets darauf vertraut, dass diese Leute ihre Artikel herstellen, oder zumindest einen hohen Anteil daran. Denn die Leute bei uns wollen solche Jobs nicht annehmen.

Webb: Mhm.

Hamnett: Die müssen aber jetzt über 30.000 Pfund pro Jahr verdienen, und das trifft bei ihnen nicht zu. Daher gibt es einen riesigen Mangel an Textilarbeiter*innen im UK.

(Tatsächlich ein heikler Punkt: Die Modeindustrie ist im UK genau so wie überall sonst auf ausbeuterischen Billiglöhnen aufgebaut, ähnlich wie etwa die Agrarindustrie, der übrigens eigens für diesen Zweck bereits Sonderarbeitsvisa für Niedriglohnarbeitskräfte von außerhalb der EU zugesprochen worden sind. Soviel zum Traum linker Brexit-Befürworter*innen, der Brexit würde das Lohnniveau heben.)

Das kommt noch zu den unglaublichen Problemen der Versendung von Produkten an die EU dazu, und die Regierung ist nicht bereit, der Industrie zuzuhören. Sie verweisen uns weiter, wir sollen uns doch an das British Fashion Council wenden. Alle glauben, das sei eine Regierungsinstitution, aber tatsächlich ist das eine Privatfirma.

(Hinter dem offiziell klingenden Titel British Fashion Council verbirgt sich eine Not-for-profit-Organisation mit der Hauptaufgabe, zweimal im Jahr die London Fashion Week abzuhalten. Derzeit wird das BFC geleitet von der Luxusmode-Händlerin Stephanie Phair, sein „Ambassadorial President“ ist wiederum David Beckham, soviel zur Sicht dieser Organisation als Interessenvertretung der britischen Bekleidungsindustrie.)

Webb (unterbricht): Aber Oliver Dowden, der Minister (für digitale Angelegenheiten, Kultur, Medien und Sport) hat auch gesagt, Leute wie Sie sollten ihre Star Power verwenden, um Brüssel zu überreden...

(Tatsächlich hatte Dowden das schon im Jänner ernsthaft als Strategie vorgeschlagen, nachdem sich Musiker*innen wie Elton John in einem verzweifelten offenen Brief zu den ruinösen Folgen des Brexit an ihn bzw. die Regierung gewendet hatten.)

Hamnett: Das ist eine Impertinenz! Kümmern ihn die 32 Milliarden denn nicht, die die Mode und der Bekleidungshandel für die britische Wirtschaft bedeuteten? Es ist beleidigend.

Webb: Nun, ich nehme an, Sie können das auf eine Art in Ordnung bringen, wie er das nicht kann.

(Ein Paradebeispiel für den infantilen Ton des politischen Diskurs in Großbritannien derzeit: Da tut der Moderator der Flaggschiff-Radionachrichten-Sendung der BBC einfach so, als könnten Promis bei der EU anrufen und sagen: ‚Hey, ihr kennt mich aus dem Fernsehen, ich find das mit den Bearbeitungsgebühren und der Mehrwertsteuer ehrlich gesagt ganz uncool, jetzt seid einmal nicht so.‘ Und man weiß nicht, soll man hoffen, dass Webb tatsächlich bloß so tut und nur die Hörer*innen für blöd verkauft? Oder stellt er sich die Welt wirklich so vor und sollte daher auf gar keinen Fall eine Nachrichtensendung moderieren?)

Hamnett (kann’s nicht ganz glauben): Nun, das ist, also... Diese Leute gehören gefeuert! Unsere Handelsbedingungen mit der EU gehören neu verhandelt. Die dachten wohl offensichtlich, sie machen auf harten Brexit und haben sich überhaupt nicht richtig damit auseinandergesetzt. Es ist eine KATASTROPHE für Made in Britain, für die britische Modeindustrie, ich meine Made in Britain wird in Südostasien als eine höchstwertige Qualitätsmarke angesehen. Wir haben unglaubliche Chancen, nach dem Brexit unsere Modeindustrie neu aufzubauen, aber die Regierung hilft nicht, sie zerstört sie.

Webb: Ist da nicht etwas, das Sie tun können als eine Industrie? Ich denke da jetzt an das Schaffen von Ressourcen. Denn ein Problem sind die Herkunftsregeln, also diese Sache, dass Zeug hier gemacht wird und dabei Material verwendet wird, das von außerhalb dieses Landes kommt.

Hamnett: Ja, 75 Prozent unserer Komponenten sind importiert...

(Katharine Hamnetts eigene Designs werden, wie sie auf ihrer Website offenlegt, in Italien in textile Form gebracht, wobei sie großen Wert auf als „fair“ eingestufte Arbeitsbedingungen legt. Im Unterschied dazu begnügt sich der Großteil der britischen Modeindustrie damit, seine Produkte am billigstmöglichen Standort herstellen zu lassen und sie dann der Welt als britische Produkte zu verkaufen. Was unter den Herkunftsregelungen im Freihandelsvertrag zwischen EU und UK nun plötzlich ein gröberes Problem bedeutet.)

Webb: Gibt es einen Weg, das zu stoppen? Den Import zu reduzieren und mehr hier zu machen?

Hamnett: Nun, unsere Wollindustrie ist tot. Unsere Baumwollindustrie, die uns während der industriellen Revolution so groß gemacht hat, ist tot. Wir müssen importieren, um überleben zu können. Wir haben keine Produktion hier. Wenn wir riesige Zuschüsse von der Regierung kriegen können, dann nur her damit, bringt it on! Lasst uns die britische Woll- und Baumwollindustrie neu erfinden!

(Subtext: Die Baumwolle kam einst aus den Kolonien. Befürwörter*innen des Brexit sind oft ziemlich beleidigt, wenn man sie der Empire-Nostalgie bezichtigt. Ihr Global Britain, sagen sie, schaue in die Zukunft. Was sie allerdings nicht mitbedenken, ist, wie sehr der historische industrielle Reichtum Großbritanniens von der Verfügbarkeit billiger Rohstoffe aus den Kolonien abhing.)

Aber die Regierung versucht uns einfach nur unter den Teppich zu kehren. Es ist erstaunlich, diese herablassende Attitüde gegenüber einer maßgeblichen Industrie, und diese Weigerung zu helfen. Vergessen Sie, dass das British Fashion Council ungeeignet für seinen Zweck ist, die ganze Regierung wird ihrem Zweck nicht gerecht.

Webb: Ich kann Ihren Ärger hören, jede*r kann Ihren Ärger darüber hören, was die Regierung vorschlägt, ich frage mich nur, trotz Ihres Ärgers darüber, ob es nicht das Schnellste wäre, also die Sache, die funktionieren könnte, sozusagen das Flotteste, wenn Sie sich als Industrie direkt an europäische Regierungen wenden und sagen: ‚Ihr müsst das in Ordnung bringen.‘

Hamnett (nach langem Durchatmen): Nun, ich denke, unsere Regierung ist dazu da, uns zu repräsentieren. Das sollte eine Demokratie sein, die ihre Industrie repräsentiert. (eigentlich die Bevölkerung, aber selbst die alte Thatcher-Gegnerin Hamnett hat offenbar das Selbstbild Großbritanniens als Klientenstaat privater Wirtschaftsinteressen bereits internalisiert) Wir brauchen die Unterstützung der britischen Regierung, und bislang haben die nicht einmal eingewilligt, sich mit der Mode an einen runden Tisch zu setzen. Stattdessen wimmeln sie uns mit vagen Geschichten über die ‚creative industries‘ ab. Es geht nicht nur um die ‚creative industries‘, das ist eine riesige herstellende Industrie und ein ganzes Handelsgewerbe, das für alles da ist. Dass Leute eine Behausung haben, sich ernähren, kleiden und hoffentlich ihre Kinder ausbilden lassen können. Und sie nehmen das nicht ernst.

Webb: Katharine Hamnett, thank you very much.

Und weiter zum nächsten Thema.

Wenn mich also beim nächsten Mal wieder jemand ungläubig darauf anspricht, es könne ja wohl nicht sein, dass die Briten ihre Musik- und Modeindustrie, ihr Theater, ihren Film der nationalen Wahngeburt Brexit opfern: Doch, das kann sein, und so läuft der Diskurs dazu.

Wie es soweit kommen konnte, wird man sich dereinst in vollem Umfang fragen. Wenn es für die sogenannten „creative industries“ und alle, deren Existenzen an ihnen hängen, längst zu spät sein wird.

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