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Warum wir rassismuskritische Psychotherapie brauchen

Die Vorsitzende des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie, Leonore Lerch, forscht und arbeitet seit Jahren zu rassismus- und gesellschaftskritischer Psychotherapie. Im Interview erzählt sie, warum Psychotherapie politisch ist und was Rassismus mit unserer mentalen Gesundheit macht.

Von Melissa Erhardt

Es gibt viele Studien, die zeigen, dass sozial benachteiligte Gruppen besonders stark mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Dazu zählen aber nicht nur Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund, sondern auch ethnische Minderheiten und People of Colour. Strukturelle Diskriminierung, etwa Bildungs- und Arbeitsmarktchancen, wirken sich schon früh auf die Psyche aus und können durch Alltagsrassismus und belastende Ereignisse verstärkt werden. Trotzdem gibt es im deutschsprachigen Raum wenig Forschung dazu - und in der psychotherapeutischen Praxis wird Rassismus oft nicht-thematisiert oder gar geleugnet. Die Vorsitzende des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie Leonore Lerch ist eine der wenigen, die sich damit beschäftigt.

Profilfoto Lerch

Leonore Lerch

Leonore Lerch ist Psychotherapeutin, Supervisorin und Vorsitzendes des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie. Seit Jahren forscht sie zu Psychotherapie im Kontext von Machtungleichheiten und Intersektionalität.

Es gibt viele Menschen, die Rassismus-Erfahrungen gemacht haben und darüber gerne mit einem/einer Psychotherapeut*in sprechen würden. Bei Online-Such-Seiten kann man Psychotherapie nach vielen Kriterien filtern, z.B. nach Kaufsucht oder nach Schrei-Babys. Rassismus ist aber meistens kein Such-Kriterium. Viele sagen, Rassismus sei ein „weißer“ Fleck in der Psychotherapie. Würden Sie dem zustimmen - und woran könnte das liegen?

Leonore Lerch: Wir haben in der Gesellschaft einfach noch nicht ausreichend gelernt, überhaupt über Rassismus zu sprechen. Und das ist ein großes Thema. Mein Eindruck ist, dass das weder in der psychotherapeutischen Praxis noch in der Ausbildung sehr thematisiert wird. Und da ist die Psychotherapie quasi ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn wir Rassismus als gesellschaftliches System sehen, dann sind wir ja alle von Rassismus betroffen - nur in unterschiedlicher Weise. Und ich denke, da ist dann nicht die Frage, ob eine einzelne Person das jetzt will oder nicht will, sondern es geht tatsächlich darum anzuerkennen: Rassismus findet statt, ob wir das wollen oder nicht.

In den USA spricht man bei Rassismus ja mittlerweile von einer Art der Traumatisierung, von dem sogenannten Race Based Traumatic Stress. Im deutschsprachigen Raum gibt’s da relativ wenig Forschung dazu. Sie sind eine der wenigen, die sich damit beschäftigt. Können Sie vielleicht kurz erklären, was Rassismus mit der Psyche macht?

Leonore Lerch: Rassismus-Erfahrungen können sehr unterschiedlich sein, je nach Kontext. Was wichtig ist, im Zusammenhang mit Rassismus und Psyche, ist: Wir sprechen über Machtverhältnisse. Und ein wesentlicher Mechanismus ist hier das Othering: Eine privilegierte Gruppe definiert wer dazu gehört und wer nicht und was die Spielregeln sind. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, berichten häufig, anders behandelt zu werden, sich selbst anders zu erleben, nicht dazu zu gehören, benachteiligt zu sein oder aufgrund von kulturell oder körperlich zugeschriebener Merkmale nicht dieselben Rechte oder Möglichkeiten zu haben.

Wie äußert sich das bei den Betroffenen?

Leonore Lerch: Klient*innen, die zu mir in die Praxis kommen, berichten zum Beispiel, dass sie Ängste haben, sich oft niedergeschlagen fühlen, unter Versagensängsten leiden oder Selbstwert-Thematiken haben. Aber auch psychosomatische Erkrankungen: Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Magenschmerzen. Das heißt, man muss da dann schon genau schauen, was erleben die Klient*innen und wie kann man das im Kontext von Rassismus verstehen?

Wenn jetzt Menschen, die Rassismus Erfahrungen gemacht haben, zu Therapeuten oder Therapeutinnen gehen und dort nicht offen über ihre Erfahrungen sprechen können, oder wo ihnen diese Erfahrungen sogar abgesprochen werden - was macht das mit ihnen?

Leonore Lerch: Also dass ein*e Psychotherapeut*in tatsächlich die Erfahrungen, mit denen ein*e Klient*in kommt, abspricht oder bagatellisiert und sagt „Ja, das kann man auch anders sehen, das ist ja gar kein Rassismus“ ist aus meiner Sicht schon sehr massiv. Es ist oft so, dass erst mal abgetastet wird: Wie offen ist der/die Therapeut*in überhaupt? Wird das Thema positiv aufgenommen oder gleich abgeblockt? Es genügt oft schon, dass die/der Psychotherapeut*in nicht darauf eingeht. Dann unternimmt der/die Klient*in keinen zweiten Anlauf, das zu thematisieren.

„Es kann nicht sein, dass die Klientin die Sitzung bezahlt und die Therapeutin darüber dann Wissen über Rassismus generiert“

Mir wird immer wieder berichtet, dass Klient*innen versuchen, in den Sitzungen, die ja sie selbst bezahlen, den Psychotherapeut*innen Wissen über Rassismus anzubieten, um damit dann irgendwie die Therapie fortsetzen zu können. Da passiert dann natürlich auch eine Re-Inszenierung von rassistischen Dynamiken. Es kann nicht sein, dass die Klientin die Sitzung bezahlt und die Therapeutin darüber dann Wissen über Rassismus generiert. Insofern braucht es da, glaube ich, auch eine große Ehrlichkeit vonseiten der Therapeut*innen offen zu legen: „Okay, das tut mir leid, zu dem Thema bin ich nicht kompetent.“

Warum beschäftigen sich im deutschsprachigen Raum so wenige Therapeut*innen mit dem Thema? Und wie schätzen sie die Anstrengungen in Österreich ein, das zu ändern?

Leonore Lerch: In den letzten Jahren ist schon mehr passiert, auch mehr in Deutschland als in Österreich. Aber wenn man das zum Beispiel mit dem englischsprachigen Raum vergleicht, gibt es dort eine wesentlich breitere Auseinandersetzung mit dem Thema. Derzeit wird noch so getan, als ob Österreich oder Deutschland keine Einwanderungsländer sind: Rassismus wird oft geleugnet oder kommt eben nur im Kontext von Migration vor. Dann ist natürlich auch klar, dass das einfach weniger thematisiert wird. Es ist auch immer eine Machtfrage: Es sind meist weiß positionierte Menschen, die in der Regel die Inhalte bestimmen. Weiß positionierte Menschen müssten hinterfragen, welche Rolle sie im System von Rassismus spielen: Welche Privilegien und Vorteile haben sie aufgrund von Rassismus und wie profitieren sie davon? Diese Auseinandersetzung, die ja auch unter dem Stichwort Critical Whiteness bekannt ist, ist natürlich eine, die, wenn sie ehrlich geführt wird, zu Verunsicherung führt und unter Umständen eben auch bedeutet, Privilegien aufzugeben. Und das ist kein Thema, wo jetzt alle sagen „Ja, das wollen wir unbedingt.“

„Nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe heißt nicht, dass man psychotherapeutisch auch gut mit der Thematik arbeiten kann.“

Ich denke, Rassismus ist ein Thema, wo es einfach auch darum geht, Wissen zu erwerben und Wissen zu generieren - wie bei jedem anderen Themen auch. Nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe heißt nicht, dass man psychotherapeutisch auch gut mit der Thematik arbeiten kann. Ich sehe das aber auch als längeren Prozess. Bei Gender hat es auch lange gebraucht, bis es in der Psychotherapie angekommen ist. Ähnlich ist das mit dem Thema Rassismus: Da wird offensichtlich noch einiges an Zeit benötigt, bis es wirklich im Mainstream ankommt.

Das kann man zwar nicht verallgemeinern, aber bei vielen Familien mit Migrationsbiografien herrscht das Mindset von „Psychotherapie brauchen wir nicht. Wir müssen mit unseren Problemen selbst klarkommen“ stärker vor als in anderen Familien. Würden Sie das auch so einschätzen oder glauben Sie, ist das eher der Generationen-Unterschied, der hier sichtbar wird?

Leonore Lerch: Es ist natürlich auch eine Generationenfrage. Aber wenn wir von Rassismus als System sprechen, dann bedeutet das, dass Rassismus Menschen unterdrückt und krank macht. Und wenn wir dann unsere Bemühungen nicht dahin richten, dieses System zu verändern, sondern die Menschen pathologisieren, die unter dem System leiden und das System eigentlich beibehalten - dann ist das natürlich ein berechtigter Vorwurf, auch an die Psychotherapie: Also inwieweit die Psychotherapie Menschen wieder repariert, aber das System sich nicht ändert. Diese Aspekte müssen zusammengeführt werden. Und da muss die Psychotherapie auch politisiert werden. Das heißt, gesellschaftliche Machtverhältnisse müssen in die Psychotherapie miteinbezogen werden. Auf der einen Seite geht es darum, das System zu verändern, aber auf der anderen Seite geht es eben auch darum, den Menschen wirklich Unterstützung und Hilfe anzubieten. Und diese Idee von „Ich muss stark sein, um dann auch dem System etwas entgegensetzen zu können, und drum kann ich dieses Leiden nicht wirklich thematisieren“, das ist natürlich auch eine Schlussfolgerung, die nicht immer sehr hilfreich ist.

Sprechen wir zum Schluss über Lösung, die in diesem System möglich sind. Zum ersten glaube ich, wäre es spannend zu wissen, wie man als Therapeut*in, die selbst keine Rassismus-Erfahrungen gemacht hat, damit umgeht, wenn Patient*innen diese Erfahrungen teilen.

Leonore Lerch: Naja, Psychotherapeut*innen haben ja sowieso nicht alle Erfahrungen gemacht, die ihre Klient*innen gemacht haben. Sonst würde das ja bedeuten, dass eine Psychotherapeutin nur mit den Themen arbeiten kann, wo sie selbst Erfahrungen gemacht hat. Und das ist ja nicht so. Insofern denke ich nicht, dass Psychotherapeut*innen nur dann mit dem Thema Rassismus arbeiten können, wenn sie das selbst erlebt haben. Generell geht es darum, wenn ein*e Klient*in über sehr verletzende Erfahrungen spricht, als Therapeut*in einzuladen, mehr davon zu erzählen, nachzufragen, Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen. Letztendlich geht es ja immer auch darum, verstehen zu wollen: Was hat der Klient oder die Klientin erlebt und wie wirkt sich das möglicherweise auf das Leben aus?

Gibt es eine Möglichkeit, in Österreich Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen zu finden, die vielleicht besser mit diesem Thema umgehen können? Suchen kann man danach ja nicht.

Leonore Lerch: Es gibt zwar vielleicht nicht das Stichwort „Rassismus“, aber z.B. „Migration“ oder „Interkulturalität“ oder ähnliche Begrifflichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Therapeut*innen, die zu diesen Schwerpunkten arbeiten, sich auch mit Rassismus auseinandergesetzt haben, ist schon hoch. Natürlich nicht immer, weil Rassismus ja auch nicht nur im Kontext von Migration oder Flucht ein Thema ist. Viele Personen, die mit Rassismus konfrontiert sind, sind in Österreich geboren und sprechen perfekt Deutsch.

Zu empfehlen ist auch, mehrere Psychotherapeut*innen zu kontaktieren, ein Erstgespräch zu vereinbaren und dann auch nachzufragen: Haben Sie zum Thema Rassismus Erfahrung? Ich denke, dass es wichtig ist, dass das kommunizierbar ist.

Viele Menschen können sich eine Therapie vielleicht gar nicht leisten oder müssen warten, bis sie einen kassenfinanzierten Therapieplatz bekommen. Gibt es Möglichkeiten, mit solchen Erfahrungen selbst fertig zu werden?

Leonore Lerch: Ja, natürlich! Wenn ein soziales Netzwerk da ist, eine Familie oder Freund*innen, wird darüber zu sprechen oft als hilfreich erlebt. Es gibt auch Gruppen, also Empowerment-Gruppen zum Beispiel, wo nur BIPOCS ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen und auch stärken. Auch Literatur zum Thema Rassismus kann hilfreich sein, auch sonstige Vorträge oder Informationen aus dem Internet. Nicht jede Person, die Rassismus-Erfahrung gemacht hat, macht deswegen eine Psychotherapie. Und ich denke, das ist ja auch nicht in jedem Fall notwendig.

Haben Sie das Gefühl, dass sich jetzt seit letztem Jahr die Gesellschaft hier ein bisschen weiterentwickelt hat, also seit den Black Lives Matter Protesten? Da hat man ja vielleicht das erste Mal überhaupt in den österreichischen Zeitungen von Critical Whiteness oder weißer Zerbrechlichkeit usw. gehört.

Leonore Lerch: Tatsächlich sind diese Konzepte ja nicht so neu. Gerade in feministischen Kontexten war das ja schon vor 20 Jahren Thema, Rassismus und Psychotherapie. Aber ich habe schon den Eindruck, dass Bewegung hineinkommt. Man kann nur hoffen, dass es nicht endlos dauert, bis sich da auch wirklich Standards etablieren, dass eben auch Rassismus und Rassismus-kritische Psychotherapie ein standardisierter Ausbildungsinhalt ist in der Psychotherapie. Aber wie gesagt, die gesellschaftspolitischen Prozesse gehen hier parallel zur Psychotherapie. Wenn wir diese Themen in der Gesellschaft positionieren können und in den Mainstream bringen, dann zieht die Psychotherapie auch nach. Die Psychotherapie ist mit Sicherheit nicht der erste Bereich, der sich ändert, da braucht es zuvor wirklich diese gesellschaftspolitischen Prozesse. Dann verändert sich aber auch die Psychotherapie.

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