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Das neue Masha Qrella Album "Woanders"

Diana Naecke

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Masha Qrella und ihr neues Album „Woanders“

Die Berliner Musikerin Masha Qrella hat Gedichte des Ost-Schriftstellers Thomas Brasch zu einem wunderbaren Album über durcheinandergewirbelte Identitäten verdichtet.

Von Christian Lehner

Der vielleicht beste Songtext zur Coronakrise, zum Stillstand des Kulturlebens, zu den verwaisten Tanzflächen der Clubs, stammt aus einer Zeit lange vor der Coronakrise. Es sind nur ein paar Verse, doch sie fassen das Dilemma gut zusammen. Das Gedicht heißt „Geister“.

Wie soll ich Dir das beschreiben? Ich kann nicht tanzen. Ich warte nur. In einem Saal aus Stille. Hier treiben Geister ihren Tanz gegen die Uhr.

Geschrieben hat dieses Gedicht Thomas Brasch – ein Lyriker, der in der DDR aufgewachsen ist. Eingesungen hat dieses Gedicht Masha Qrella, die als Mariana Kurella ebenfalls in der DDR aufgewachsen ist. Die Berliner Popmusikerin hat 17 Poems von Thomas Brasch vertont und vergangenen Freitag als Album mit dem Titel „Woanders“ auf dem Label Staatsakt veröffentlicht.

„Der eigentliche Auslöser war das Buch „Ab jetzt ist Ruhe“ von Marion Brasch, der Schwester von Thomas“, erzählt Masha Qrella im Video-Chat. „Über die Familiengeschichte, bin ich auf die Texte gekommen und bei den Gedichten hängen geblieben. Ich habe dann angefangen, die Texte zu singen. Dann habe ich sie als Grußbotschaft mit dem Handy aufzunehmen und an Freunde versendet. Dann habe ich einen Beat dazu gemacht, dann ein Klavier. Es ist faszinierend, mich erinnern seine Sachen eher an David Bowie als an Heiner Müller.“ (Anm.: Heiner Müller war einer der wichtigsten Schriftsteller der DDR, Masha Qrella hat für ein Projekt auch einen seiner Texte vertont.)

Feind der DDR

Thomas Brasch, geboren 1945, war der Spross einer jüdischen Familie mit Wurzeln in Deutschland und Österreich. Seine Mutter war Journalistin, der Vater stieg nach der Rückkehr aus dem englischen Exil zum stellvertretenden Kulturminister der DDR auf. Thomas Brasch betätigte sich auch als Übersetzer, Dramatiker und Drehbuchautor.

In der Szene Ost-Berlins galt er als Unbequemer. Brasch legte sich immer wieder mit dem DDR-Regime an, etwa wenn es um Zensur und Ausweisung von Künstler*Innen ging. Er wurde von der Stasi als „Feind der DDR“ eingestuft, landete im Knast und ging 1976 ins Exil nach Westberlin. Dort avancierte er mit dem noch in der DDR verfassten Prosa-Band „Vor den Vätern sterben die Söhne“ zum Literatur-Star. Nach der Wende zog sich Brasch aus der Öffentlichkeit zurück. Der Wortgewaltige fand plötzlich keine Worte mehr. Vielleicht war einfach auch schon alles gesagt. 1999 ein kurzes Comeback. Im Jahr 2001 verstarb Thomas Brasch an Herzversagen.

25.02.21 Das neue Masha Qrella Album "Woanders"

CRoraius

Wende, Identität und Musik

Für Masha Qrella funktioniert die Lyrik des Ost-Poeten wie ein Seismograph, der schon sehr früh die Erschütterungen wahrgenommen hatte, die viele Ex-DDR-Bürger*Innen in der Nachwendezeit erfasste. Darunter auch Qrella selbst, die zur Zeit der Wende 14 Jahre alt war.

„Er hat 30 Jahre vor uns allen diese Erfahrung gemacht, von den Osten in den Westen zu kommen. Er hat schon damals einen Zustand beschrieben, in dem man sich dann befand und aus einer Perspektive heraus geschrieben, die mir sehr vertraut vorkam und in der ich mich noch heute finde.“

Das neue Masha Qrella Album "Woanders"

Staatsakt

„Woanders“ ist auf Staatsakt erschienen. Hier geht’s zum Interview-Podcast mit Masha Qrella.

Als sie nach der Wende mit der Musik begann, brauchte Masha Qrella eine lange Zeit, um Worte für das zu finden, was sie in Bezug auf ihre Identität bewegte. Brasch hat ihr nun diese Worte gegeben. Die Musikerin aus dem Stadtteil Lichtenberg war mit ihren Bands Contriva, Mina und NMFarner Ende der 1990er-Jahre ein Fixstern in der Postrock- und Indietronica-Szene Berlins, die mit Fokus auf Instrumentalstücke die Rockmusik zerlegte und – um ihren Macho-Aspekt bereinigt – neu arrangierte. Ab 2002 konzentrierte sich Masha Qrella zunehmend auf Soloprojekte und begann, in ihren Songs zu singen – zunächst auf Englisch.

Vom Theater zum Album

Ein Pop-Album stand ursprünglich gar nicht auf dem Plan. „Woanders“ wurde im November 2019 in Berlin auf die Bühne des Hebbel am Ufer (HAU) gebracht. Als Co-Produzent fungierte das Wiener WUK. Dort hätte die Performance am dritten Februarwochenende stattfinden sollen. Der Termin musste aber wegen Corona auf Anfang Oktober 2021 verschoben werden. Bei der Realisierung der Musik wirkten unter anderem mit Dirk von Lowtzow von Tocotronic, Andreas Spechtl von Ja-Panik, Tarwater, Marion Brasch, Chris Imler und der Multiinstrumentalist Andreas Bonkowski.

„Mit der Performance wollten wir Räume für die Texte schaffen und nicht die eh schon sehr viel besprochene Persönlichkeit von Thomas Brasch in den Mittelpunkt rücken“, sagt Masha Qrella. „Wir haben mit Lichtdesignern und Videokünstlern einen Abend gemacht, der die Texte im Heute verorten sollte“.

Die Songs funktionieren auch ohne die Performance. Die Gedichte von Brasch selbst sind pure Musik. Die Musik von Masha Qrella wiederum verleiht den Gedichten eine neue Gestalt, die jeden Ton trifft. „Woanders“ ist ein Album, das nur in der historischen Zerissenheit Berlins entstehen konnte. Der Anfang liegt in der geteilten Vergangenheit, die Gegenwart wird nie fertig - so wie es eines der beliebtesten Berlin-Klischees will.

Und doch lassen sich die Songs völlig frei von ihrem Kontext als Universalstudien der Entfremdung hören. Thomas Brasch verstand sich nicht als Chronist konkreter politischer Ereignisse. „Er war seiner Zeit formal und sprachlich weit voraus“, sagt Masha Qrella, „Er hat hochpolitische Texte gemacht, aber ohne mit dem Zeigefinger durch die Gegend zu laufen und ohne Parolen zu skandieren.“

Stilistisch bewegt sich „Woanders“ zwischen Rock, Kunstlied und Clubmusik. Die Songs führen in einer Zwischenwelt, die nie greifbar scheint, aber doch so präsent ist wie die Geschichte und die Identität, die wir mit uns rumschleppen. Hier treiben Geister ihren Tanz gegen die Uhr.

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