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Mithu Sanyal

Guido Schiefer

Mithu Sanyals empfehlenswertes Romandebüt „Identitti“

Ein Blackfacing-Skandal, eine wilde Identitätssuche, ein viraler Shitstorm und ein rechtsradikaler Anschlag: Das alles spielt sich im Debütroman „Identitti“ von Mithu Sanyal ab. Im Interview spricht die Autorin über reale Vorbilder in ihrem fiktiven Roman und über das Sichtbarmachen von Lebensrealitäten.

Von Michaela Pichler

„Woher kommst du? Ich meine, woher kommst du wirklich!?“ – mit dieser Frage sehen sich People of Colour in einer weißen Mehrheitsgesellschaft immer wieder konfrontiert. Diese grenzüberschreitende Frage ist eine Form von Alltagsrassismus, der auch im Buch „Identitti“ eine große Rolle spielt.

Identitti - Mithu Sanyal

Hanser Verlag

„Identitti“ ist Mithu Sanyals erster Roman und im Hanser Verlag erschienen. Die Autorin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin hat außerdem schon Sachbücher wie „Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ und „Rape. From Lucretia to #MeToo“ veröffentlicht.

„Identitti“ heißt der erste Roman von Autorin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mithu Sanyal. „Es wärmt mir irgendwie total das Herz, dass mir ganz viele Menschen schreiben, ‚Ich bin mixed-race und ich bin so glücklich darüber, dass es dieses Buch gibt!‘. Und das war eines meiner Hauptanliegen - Menschen wie uns eine literarische Stimme zu geben, denn diese Stimmen haben mir in der deutschsprachigen Literatur wahnsinnig gefehlt“, erzählt Mithu Sanyal im FM4 Interview.

Diese Geschichte ist relevant

In „Identitti“ ist die Protagonistin Nivedita so eine Stimme. Auch sie ist wie die Autorin selbst mit einem indischen Vater und einer polnisch-deutschen Mutter in Deutschland aufgewachsen und fühlt sich nie wirklich zugehörig. Als Identitti schreibt sie auf ihrem Blog über diese Zerrissenheit, Rassismus-Erfahrungen, Sexualität und mehr. Nivedita studiert bei der Star-Professorin Saraswati in Düsseldorf Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie. Mit den Büchern, Konzepten und einem neuen Wortschatz kann Nivedita endlich blinde Flecken benennen und lernt, was Identität alles in einem Menschenleben sein kann.

„Und damit wären wir bei den Büchern - bei den Büchern, die meine Seele gerettet haben, oder auch nur meine Psyche oder mich, gerettet davor, wahnsinnig zu werden in einer Welt, die meine Wahrnehmung geleugnet hat, die meine Existenz geleugnet hat, die mir an jeder Ecke und Kante gesagt hat: Du bist nicht echt, deine Probleme sind nicht echt, deine Geschichte ist nicht relevant.“ (aus „Identitti“)

Saraswati wird als internationale Koryphäe in der Welt der Geisteswissenschaft gefeiert, spricht in TV-Diskussionen und Symposien über Rassismus und Identitätspolitik und versammelt auf der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eine Schar Studierender um sich, die an ihren Lippen hängen. Saraswati wird für Nivedita zur strahlenden Mentorin. Bis es zum unglaublichen Blackfacing-Skandal kommt: Denn Saraswati heißt eigentlich Sarah Vera Thielmann, ist weiß und hat sich nur als Person of Colour ausgegeben - inklusive chirurgischem Eingriff und Hormonbehandlung für einen dunkleren Hautton. Mit dem sich aufbrausenden Shitstorm stürzt für Nivedita eine Welt zusammen, die sie sich während des Studiums aufgebaut hat. Und all die Fragen zur Identität klopfen wieder an Niveditas Tür.

„Das war das Problem: Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächert sich die Wirklichkeit in so vielen Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für sie gab.“ (aus „Identitti“)

„Schwarz“ wird hier groß geschrieben und „weiß“ kursiv, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine biologische Zuschreibung aufgrund der Hautfarbe handelt, sondern um ein soziales bzw. politisches Konstrukt.

Der Fall Rachel Dolezal

In „Identitti“ ist der Fall um die betrügerische Professorin Fiktion. Ein reales Vorbild dafür gab es allerdings in den USA 2015 mit Rachel Dolezal: Diese war bis dahin Lehrbeauftragte für afrikanische und afroamerikanische Studien an der Eastern Washington University und Präsidentin der lokalen Abteilung der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). All das übte sie als vermeintlich Schwarze Person aus, bis das Geheimnis ihrer weißen Herkunft plötzlich ans öffentliche Licht geriet. Der Fall um Dolezal hat die Autorin Mithu Sanyal lange beschäftigt. „Zum einen, weil er natürlich auf der einen Seite so unglaublich ist - denn wieso macht sie das? Was steckt dahinter? Und zum anderen, weil Dolezal mit denselben Fragen konfrontiert wurde, die mir mein Leben lang gestellt wurden. Also ‚Wer bist du? Wer bist du wirklich? Kannst du beweisen, dass du du bist?‘ All diese Fragen kann man nicht beantworten.“

Rachel Dolezal war aber nicht die einzige Vorlage für die Professorin Saraswati. Inspiriert wurde Sanyal unter anderen von Gayatri Chakravorty Spivak, Audre Lorde und bell hooks. Neben den Blog-Einträgen von Nivedita treten im Buch auch reale Personen in Form von Tweets auf, die als Kommentare zum Shitstorm extra für das Buch geschrieben wurden. Nachzulesen sind all diese Zusatzinformationen auf den letzten Seiten des Romans. Selten hat sich ein Nachwort so aufschlussreich wie das von Mithu Sanyal am Ende von „Identitti“ angefühlt.

Ein literarisches Denkmal

Auch Rachel Dolezals Blackfacing-Enttarnung wurde von einem viralen Shitstorm in den Medien und im Netz begleitet. Dieser hat sich im Diskurs erst verändert, als am 17. Juni 2015 ein weißer, rechtsradikaler Terrorist neun Schwarze Menschen in einer Kirche in Charleston erschoss. „Danach konnte nicht mehr in derselben Form über den Dolezal-Skandal diskutiert werden.“ Diesen Cut im Diskurs gibt es auch in Mithu Sanyals Debütroman, mit einem der jüngsten Gräueltaten der deutschen Geschichte, dem Terroranschlag von Hanau, bei dem vor einem Jahr neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordet wurden. „Ich wollte ein Denkmal setzen. Für mich war das etwas, das ich überhaupt nicht verstehen konnte, warum rechtsradikale, rassistische Anschläge kein Echo in der deutschsprachigen Literatur gefunden haben“, meint Mithu Sanyal. Langsam ändert sich das, mit Romanen wie „Identitti“, aber auch mit dem Büchern wie von Literaturkolleg*innen wie Hengameh Yaghoobifarahs „Ministerium der Träume“.

Am Donnerstag, den 11. März, veranstalten die Büchereien Wien eine „Identitti“-Lesung mit der Autorin Mithu Sanyal per Zoom-Stream. Beginn ist um 19:00.

Voneinander und miteinander lernen

Im Buch „Identitti“ werden viele Fragen zum Thema Identität aufgeworfen. Der Roman fühlt sich wie eine leicht verständliche Einführungsvorlesung in die Themen Identitätspolitik und Postkoloniale Studien an und wie ein Nachschlagwerk für Antirassismus. „Identitti“ ist aber nicht nur extrem lehrreich, sondern vor allem auch sehr unterhaltsam. Das ist unter anderem der Leichtigkeit der lebhaften Dialoge geschuldet. „Identitti“ kommt außerdem ohne wertende Moralpredigten aus. Denn die Autorin Mithu Sanyal plädiert für einen offenen Umgang mit all diesen Themen und möchte Raum für einen Dialog schaffen, wie sie im Interview meint:

„Wir werden Fehler machen! Ich mache Fehler, wenn ich im weitesten Sinne ein Buch über Race, Rassismus, Rassifizierung und so weiter schreibe. Ich habe mich vorher für alles mögliche beraten lassen, und trotzdem macht man Fehler. Das ist einfach so, wir müssen voneinander und miteinander lernen, aber auch lernen wollen!“

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