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Sarah Everard Mahnwache London Polizei

JUSTIN TALLIS / AFP

ROBERT ROTIFER

Wenn Beschützer auf Frauenrücken knien

Wie gestern Abend in London eine Mahnwache für ein Opfer männlicher Gewalt gegen Frauen zum Schauplatz demonstrativer Staatsgewalt gegen Frauen geriet.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich wusste ja, dass ich das schreiben hätte sollen, BEVOR ich mir die beschwichtigenden, relativierenden, einerseits-andererseitigen Politiker*innen-Interviews an diesem Sonntagmorgen reinzog. Also pfeifen wir erst einmal auf all das, lassen wir den berechtigten Sarkasmus beiseite und sagen wir trocken, was war:

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Das uneinige Königinnenreich hat zwischen dem Feministischen Kampftag am Montag und dem heutigen britischen Muttertag eine im negativen Sinn erstaunliche Woche durchgemacht.

Fotos der in der Nacht des 3. März auf dem Heimweg von einem Besuch bei ihrem Freund verschwundenen 33-jährigen Sarah Everard waren schon eine Weile durch die Medien gegeistert, aber wie bei solchen Fällen so niederschmetternd oft der Fall wandelte sich die Vermisstenmeldung im Lauf der vergangenen Woche in die Ermittlung eines Mordes.

Am Dienstag verhaftete und verhörte die Polizei dazu einen der ihren, den 48-jährigen Wayne Couzens aus Deal in Kent, seit 2018 Beamter der Metropolitan Police, als Hauptverdächtigen. Und am Mittwoch wurde in einem Wald nahe der Pendler*innenstadt Ashford Sarah Everards Leiche gefunden.

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich vor allem in sozialen Medien eine lebhafte Konversation zur Bedrohung von Frauen im öffentlichen Raum durch männliche Gewalt. Laut einer Umfrage haben 97 Prozent aller befragten Frauen in Großbritannien sexuelle Belästigungen oder Schlimmeres erfahren.

Die Frage, was geschehen müsse, um diese andauernde Unerträglichkeit zu beenden, wurde umso dringlicher, nachdem die Metropolitan Police Sarah auf Everards Verschwinden auf traditionelle Art reagierte: Man wies die Frauen der Süd-West-Londoner Nachbarschaft an, nach Einbruch der Dunkelheit die Straßen zu meiden. Die Last der Verantwortung wurde also wieder einmal auf die potenziellen Opfer abgewälzt.

Die Gruppe Reclaim These Streets versuchte daraufhin, für gestern, Samstag, eine Mahnwache am Clapham Common anzumelden, wo Everard in der Woche zuvor mutmaßlich attackiert worden war (der genaue Hergang ist noch nicht bekannt und kann nicht öffentlich diskutiert werden, denn die Verhandlung gegen Couzens ist bereits im Laufen).

Die Metropolitan Police untersagte diese Versammlung unter Berufung auf Covid-Richtlinien, obwohl die Veranstalter*innen erklärt hatten, dass sie Social Distancing-Regeln beachten würden. Reclaim These Streets sagte daraufhin die Mahnwache mit Bedauern ab und rief stattdessen dazu auf, zum Gedenken an die Ermordete Kerzen in Fenster und Vorgärten zu stellen.

Wie vorherzusehen, hielten sich einige Hunderte (darunter übrigens auch Kate Middleton, die nicht gerade als Paradefeministin bekannte Herzogin von Cornwall) nicht an die polizeiliche Anweisung, ihren Widerstand in die Privatsphäre zu verlegen, und gingen erst recht auf den Clapham Common.

Sarah Everard Mahnwache London Polizei

JUSTIN TALLIS / AFP

Rund um den offenen Konzertpavillon in der Mitte des Parks wurden Blumen und Botschaften zum Gedenken an Sarah Everard hinterlegt.

Als Frauen (und auch Männer) im Verlauf des Tages die Gelegenheit ergriffen, zu der wachsenden Menge zu sprechen, formierte sich die Polizei zur Auflösung der Versammlung. Unter anderem bildeten die Polizist*innen einen Kordon rund um den Pavillon und zertrampelten dabei die dort hinterlegten Blumen, dann begannen sie, die Demonstrant*innen handgreiflich einzukesseln (zur Wahrung des Social Distancing, wohlgemerkt).

Während in den Rolling News-Kanälen von BBC und Sky TV den ganzen Abend hindurch nichts davon zu sehen war, verbreiteten sich auf meiner Twitter-Timeline schockierende Bilder von Polizist*innen, die Demonstrierende vor sich hinstießen und niederrangelten.

Darunter das Foto einer Frau, die von mehreren auf ihrem Rücken knieenden Polizisten festgehalten wurde. Eine Mahnwache für ein Opfer männlicher Gewalt gegen Frauen war also durch die Intervention der Metropolitan Police zum Schauplatz demonstrativer Staatsgewalt gegen Frauen geworden.

Aber diese schockierenden, erzürnenden Bilder hatten auch noch einen anderen, sehr aktuellen Hintergrund, denn morgen Montag wird die britische Regierung ein Gesetz beschließen, das der Polizei noch nie dagewesene Rechte zur Auflösung und Verhinderung öffentlicher Versammlungen verleihen soll.

Dazu gehört nicht nur die Einführung einer Bannmeile für lautstarke Proteste rund um die Houses of Parliament, sondern überhaupt eine Kriminalisierung von Lärmerregung, die Menschen in der Umgebung einer Demonstration bei der Arbeit stören könnten.

Anlass für diese radikale Verschärfung des Versammlungsrechts waren die von Innenministerin Priti Patel als „schauderhaft“ bzw. als „Hooliganismus“ verdammten Proteste der jüngeren Vergangenheit im Namen von Bewegungen wie Extinction Rebellion und Black Lives Matter. Zum Beispiel soll die Beseitigung, Beschädigung oder Entwürdigung eines Denkmals, wie etwa im Fall der letzten Juni gestürzten Statue eines Sklavenhändlers in Bristol, in Zukunft mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren (statt derzeit drei Monaten) geahndet werden. Der Gesetzestext hätte aber auch locker dazu gereicht, all jene zu kriminalisieren, die sich gestern auf dem Clapham Common versammelten.

Da gibt es nichts zu relativieren: Der Zusammenfall des in offensichtlich zynischen Einsatzes von Covid-Richtlinien gegen Demonstrant*innen mit der verdächtigen Eile, in der die britische Regierung eine historische Beschneidung der Demonstrationsfreiheit festschreibt, fühlt sich wie ein entscheidender Moment an.

Die moderne Geschichte öffentlicher Proteste in Großbritannien reicht vom Massaker von Peterloo 1819 über die Aktionen der Suffragetten-Bewegung bis zu den Großdemos vergangener Jahrzehnte gegen die Einführung der Kopfsteuer (Poll Tax), diverse Kriege oder Brexit bzw. erwähnte Extinction Rebellion und die Black Lives Matter-Märsche vom letzten Sommer bis zu den Ereignissen auf dem Clapham Common letzten Abend.

Unter der Regierung des vorgeblich so libertär veranlagten Boris Johnson und seiner Hardliner-Innenministerin Patel steuert dieses Land nun einer besorgniserregend autoritären Zukunft entgegen.

Wenn dazu auch noch in derselben Woche die regierungskritische Satire-Sendung The Mash Report auf persönliche Initiative des neu ernannten BBC-Chefs Tim Davie, eines Parteispenders der Konservativen, eingestellt wurde, verhärtet sich das Gefühl zu einem unerfreulich klaren Eindruck: Dieses Land steht auf einer demokratiepolitischen Kippe.

Über Jahrhunderte erkämpfte Freiheiten stehen auf dem Spiel, bedroht von einer Regierung, die gleichzeitig in ihrem erklärten Krieg gegen die sogenannte Wokeness, sprich das wachsende politische Bewusstsein vor allem junger Menschen, eine heuchlerische Kampagne für Meinungsfreiheit gegenüber dem aufgeblasenen Bedrohungsbild der politischen Korrektheit führt.

Sarah Everard Mahnwache London Polizei

JUSTIN TALLIS / AFP

Doch bevor ich mich hier in Weiterführendem verliere, sollte ich wohl besser wieder zum konkreten Thema der (Staats-)Gewalt gegen Frauen zurückkehren: Der Umstand, dass die Verantwortung für den gestrigen Polizeieinsatz bei der weiblichen Londoner Polizeichefin Cressida Dick und der weiblichen Innenministerin Priti Patel liegt, zeigt wieder einmal, dass das Geschlecht von Führungspersonen allein nicht die frauenfeindlichen Strukturen einer Gesellschaft und ihrer Institutionen verschwinden lässt.

Tatsächlich ist die Laufbahn jener Cressida Dick ein vielsagendes Beispiel dafür, welche Sorte von Menschen vom System belohnt werden. Die 2017 unter Theresa May von deren damaliger Innenministerin Amber Rudd für das Amt der Chief Commissioner der Metropolitan Police empfohlene Veteranin hatte 2005 nach den Terroranschlägen auf London als „gold commander“ jenen Einsatz geleitet, der zur Erschießung des völlig unschuldigen brasilianischen Einwanderers Jean Charles de Menezes durch Zivilpolizisten führte. Statt ihren Job zu verlieren, gelangte Dick in den darauffolgenden Jahren zum Gipfel ihrer Karriere.

Sarah Everard Mahnwache London Polizei

JUSTIN TALLIS / AFP

Nach den Übergriffen gestern auf dem Clapham Common fordern nun viele zu Recht ihren Rücktritt. Aber wie ein nach Mitternacht von Dicks Assistant Commissioner Helen Ball verlesenes Statement der Metropolitan Police vor Augen führt, liegen die Wurzeln des polizeilichen Vorgehens wesentlich tiefer in der reaktionären Geisteshaltung einer Exekutive, die die Schuld als erstes beim Opfer sucht.

„Wir wollten uns absolut nicht in einer Lage wiederfinden, wo ein Einschreiten notwendig war", ließ Ball wissen, "Aber wir wurden durch das vorrangige Anliegen des Schutzes der Sicherheit von Menschen in diese Lage versetzt.“

Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, wird diese Argumentation bekannt vorkommen: „Ich habe es nur zu ihrem eigenen Schutz getan, euer Ehren. Sie war ja völlig hysterisch.“

Ball beendete ihre Darstellung des Einsatzes mit der Zusicherung, dass die Met alle von ihr überwachten Versammlungen analysiere, „um zu sehen, ob man daraus Lehren ziehen kann. Bei dieser wird es nicht anders sein.“

Oder wie es ein gewöhnlicher Gewalttäter formulieren würde: „Du glaubst, du bist was Besonderes? Du meinst, ich sollte mich verändern? Ausgerechnet deinetwegen?“

Was dem Statement dagegen abging, war jede Erwähnung des Umstands, dass der Mann, der des Mordes an Sarah Everard angeklagt ist, selbst aus den Kreisen der Metropolitan Police kommt.

Dass jener Wayne Couzens also in gerade jener Polizei einen Arbeitgeber fand, zu der etwa auch die zwei Exekutivbeamte zählten, die letzten Juni die Leichen zweier in einem Park ermordeter Frauen fotografierten und danach ihre Bilder an Kollegen verschickten. Man konnte sich unschwer ausmalen, wie es in einer Polizei zugeht, deren Beamte Bilder weiblicher Mordopfer als potenziell unterhaltsames WhatsApp-Material erachten.

Da kommt einem glatt wieder eine alte Frage der Frauenbewegung hoch: Wer beschützt uns vor den Beschützern?

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