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Nach 1 Jahr Pandemie: weitere Grundrechtseingriffe und Neudefinition der Notlage?

Vor einem Jahr gab es in Österreich die massivsten Grundrechtseingriffe der jüngeren Geschichte. Diese sollen nun noch einmal verschärft werden. Und dafür hagelt es von vielen Seiten Kritik.

Von Lukas Tagwerker

Am 16. März 2020 begannen in Österreich die massivsten Grundrechtseingriffe der jüngeren Geschichte. Schnell brachte die Regierung das COVID-19-Maßnahmengesetz durchs Parlament. Auf dieser Grundlage folgen Verordnungen wie ein „allgemeines Betretungsverbot“, an das sich Millionen Menschen halten, das auch durch Strafen von der Polizei exekutiert wird und erst Monate später vom Verfassungsgericht rückwirkend in weiten Teilen für gesetzeswidrig erklärt wird.

Es ist nur die erste von dutzenden späteren Aufhebungen von gesetzeswidrigen Covid-Maßnahmen. Das oberste Organ der Judikative erklärt den Behörden, dass sie bei ihren Entscheidungen „an die Grundrechte gebunden“ sind, „insbesondere an das Recht auf persönliche Freizügigkeit. Einschränkungen dieses Rechtes sind nur dann zulässig, wenn sie einem legitimen öffentlichen Interesse (wie dem Gesundheitsschutz) dienen und verhältnismäßig sind.“

Zu den Grundrechten zählen unter anderem:

  • das Recht auf Leben
  • das Recht auf persönliche Freiheit
  • das Recht auf Freizügigkeit der Person und des Vermögens
  • die Unverletzlichkeit des Hausrechts
  • das Recht auf Erwerbs(ausübungs)freiheit
  • das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
  • das Recht auf Vereins- und Versammlungsfreiheit

Patient*innen haben u.a. folgende Rechte:

  • das Recht auf Aufklärung und umfassende Information über Behandlungsmöglichkeiten und Risiken
  • das Recht auf Zustimmung oder Verweigerung der Behandlung (Recht auf Selbstbestimmung)
  • das Recht auf möglichst ausreichende Besuche und Kontakte mit der Außenwelt
  • das Recht auf Kontakte mit Vertrauenspersonen auch außerhalb der Besuchszeiten im Fall einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes

Balance zwischen Gesundheits- und Grundrechtsschutz

Nach einem Jahr Pandemiebekämpfung, in dem es der Regierung oft nicht gelungen ist, die richtige Balance zwischen Gesundheits- und Grundrechtsschutz zu wahren, erstaunt und empört nun ein aktueller Gesetzesentwurf, der die Grundlage des Notstands neu definieren würde.

Textgegenüberstellung zwischen geltendem und vorgeschlagenem Gesetz

parlament.gv.at

Textgegenüberstellung zwischen geltendem und vorgeschlagenem Gesetz

Über 35.000 Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf sind innerhalb der verkürzten Begutachtungsfrist eingelangt, bisher absoluter Rekord. Die Reaktionen reichen von „Ausdruck der Hilflosigkeit“ (SPÖ) über „Das ist der umfassendste Angriff auf die Grund- und Freiheitsrechte, den es seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat“ (NEOS) bis zu „Freibrief für Freiheitseinschränkungen“ (Universitätsprofessor für Staatsrecht Peter Bußjäger).

Im geplanten §15 des neuen Epidemiegesetzes ist zu lesen: “Als Veranstaltungen gelten Zusammenkünfte von zumindest vier Personen aus zumindest zwei Haushalten.“ Solche Treffen sollen zukünftig bewilligungspflichtig werden.

Für die überparteiliche Volksanwaltschaft ist diese „vom gewöhnlichen Sprachgebrauch deutlich abweichende“ Definition fragwürdig: „eine Zusammenkunft von vier Kindern, die beispielsweise gemeinsam von der Schule nach Hause gehen oder sich am Spielplatz zufällig treffen, hätte wohl niemand als ‚Veranstaltung‘ betrachtet.“

4 Personen gehen in einem Park spazieren

CC0

Eine noch gravierendere Änderung findet sich im §5 des neuen COVID-19-Maßnahmengesetzes. Bisher war es nur möglich, das Verlassen des privaten Wohnbereichs einzuschränken, „um einen drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung oder ähnlich gelagerte Notsituationen zu verhindern“. Neue Ausgangssperren sollen nun bereits bei einer nicht näher definierten „nicht mehr kontrollierbaren Verbreitung“ möglich werden.

Kritik von vielen Seiten

Die Volksanwaltschaft bezweifelt, dass diese Formulierung verfassungskonform ist und rät dazu von dieser Beschlussfassung Abstand zu nehmen.

FM4 Auf Laut: Ist da Licht am Ende des Tunnels?
Seit einem Jahr leben wir mit Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Wenn Risikogruppen geimpft sind, können wir dann zu einem normalen Leben zurückkehren – und wann wird das sein? Oder droht eine Art Corona-Dauerzustand mit eingeschränkten Grundrechten? Lukas Tagwerker diskutiert am 16.3.2021 ab 21 Uhr darüber in FM4 Auf Laut mit Gästen und Anrufer*innen.

Während Gesundheitsminister Rudolf Anschober erklärt, „externe Berater“ hätten diese Gesetzestexte empfohlen, kommt Kritik an unklaren Formulierungen und übers Ziel hinausschießenden Inhalten diesmal sogar vom Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt.

Nimmt die Regierung im Kampf gegen das Virus den Verfassungsbruch sehenden Auges in Kauf? Durch eine etwaige Gewöhnung an verfassungswidrige Gesetze droht die in Österreich ohnehin nicht besonders ausgeprägte allgemeine Sensibilität in Grundrechtsfragen weiter abzustumpfen, meinen Kritiker*innen.

Die Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung der Donauuniversität Krems Ulrike Guérot warnt mittlerweile vor einem „schleichenden Prozess“ in para-autoritäre Verhältnisse.

Auch der langjährige Chefredakteur der Sueddeutschen Zeitung, Heribert Prantl mahnt in seinem neuen Buch „Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne“ davor, demokratische Mindeststandards auf dem Altar der Seuchenbekämpfung zu opfern.

Kritik an mangelnder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen und Sensibilität bei Grundrechtseingriffen müssen also gar nicht jenen Kräften überlassen werden, die offen für extremistische Ideologien sind.

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