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In „Camel Travel“ geht’s mit ironischem Blick zurück in die zerfallende UdSSR

Aus Erinnerungs-Collagen hat die belarussische Autorin Volha Hapeyeva einen Roman über ihre Kindheit und Jugend geschrieben. Sie wird erwachsen in einer zerfallenden UdSSR, zwischen Lenin und Buchweizengrütze.

Von Diana Köhler

Kennt ihr das auch? Ihr denkt an eure Kindheit zurück, aber bei manchen Szenen oder Erinnerungen wisst ihr gar nicht mehr, ob die wirklich passiert sind, oder ob euer Gehirn euch da einen Streich spielt?

Eine Studie aus 2018 hat diese Kindheitserinnerungen erforscht und herausgefunden: Euer Gehirn spielt euch tatsächlich Streiche. Tatsächlich handelt es sich bei solchen Erinnerungen oft um eine Collage aus frühkindlichen Erfahrungen, Erzählungen der Eltern und Wissen über die damalige Zeit. Diese einzelnen Fragmente setzen Menschen meist schon früh im Leben unterbewusst zu einer fiktiven Geschichte zusammen, die sie anschließend für echt halten.

Cover Camel Travel

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„Camel Travel“ von Volha Hapeyeva ist in der Übersetzung von Thomas Weiler im Droschl Verlag erschienen und auch dessen Beitrag zum indiebookday.

Die belarussische Autorin Volha Hapeyeva hat sich diese Erinnerungs-Collagen zunutze gemacht und einen Roman über ihre Kindheit und Jugend geschrieben. Camel Travel spielt in der zerfallenden UdSSR Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre.

Regeln der Erwachsenen

Kind-sein, das war für Volha Hapeyeva nicht immer leicht. Kind-sein bedeutet, man muss Dinge tun, die man nicht will und die Erwachsene einem anschaffen. Man weiß noch nicht, wer man ist und sein will und warum man die verhasste Buchweizengrütze essen muss oder ausgerechnet als Mädchen nicht Ballspielen darf. Und dieser Lenin, der in den Schulbüchern so verehrt wird, den gab es also wirklich?

In „Camel Travel“ schaut die Autorin auf diese kleinen und großen Krisen, Glücks- und Aha-Momente ihrer Kindheit. Das alles in kurzen Episoden und Szenen. Da wäre zum Beispiel der Fall der Fäustlinge:

„Interessanterweise konnte man von den Fäustlingen darauf schließen, wie viel Verantwortungsgefühl und Vertrauen die Eltern einem zumaßen, beziehungsweise ob sie einen schon für ein eigenständiges Subjekt oder noch für einen Halbmenschen hielten. Das ging ganz einfach: Wenn man die Fäustlinge in den Taschen aufbewahren durfte, konnte man stolz sein auf das geschenkte Vertrauen, wenn sie aber an ein Gummiband genäht und durch die Mantel- oder Pelzärmel gefädelt wurden, dann Gute Nacht Fräulein Verbummel, geh hin und leide. Handschuhe am Gummiband sind wider die menschliche Natur, das ewige Ziepen am Rücken und an den Armen ruft dir ständig in Erinnerung, dass du in deinem Leben nichts auf die Reihe bekommen wirst.“

Die Oktoberkinder

Es ist eine Kindheit in zwei Ländern: Der BSSR und der UdSSR, mit zwei Hauptstädten, Minsk und Moskau und zwei Sprachen dem Belarussischen und dem Russischen. Als Kind ist das für Volha höchst verwirrend, aber für Verwirrung war kein Platz im sowjetischen Belarus.

Und schon gar nicht für Gefühlsduselei. Denn Volha war ein sogenanntes Oktoberkind, und Oktoberkinder müssen stark und hart im Nehmen sein. Echte Pionier*innen eben. Trotz der Härte, die auch zu Hause durch ihre Mutter ausgeübt wurde, weiß sich Volha zu helfen und sucht sich ihre ganz persönlichen, kleinen Schlupflöcher:

„Aus Protest dagegen wollte man erst recht zärtlich sein, wollte weinen und jemanden umarmen. So kam ich zu meinem ersten Freund jenseits der Menschenwelt. Das war ein Baum, genauer gesagt der Apfelbaum, der in Babuljas Garten wuchs. Wir sahen uns nur in den Ferien, wenn ich dort war, aber das genügte mir. Wir unterhielten und umarmten uns, und ich liebte es, den Duft seiner sonnenwarmen Rinde einzuatmen. Dann haben sie den Baum umgesägt.“

Geschichte aus anderer Perspektive

In „Camel Travel“ reisen wir mit Volha Hepeyva zurück ins Belarus kurz vor Zusammenbruch der Sowjetunion. Das Besondere ist aber: Wir schauen dabei aber nicht auf die Machenschaften großer Politiker*innen, sondern auf das Leben eines Mädchens. Ein Mädchen, das Eislaufen geht, Geburtstagsfeiern schmeißt und Comics aus Kaugummipackungen sammelt (und dafür sogar tief in eine riesige Mülltonne tauchen muss).

Auch Geschlechterdynamiken und patriarchale Strukturen reflektiert Volha Hapeyeva in ihrem Buch, und wie diese ihr Leben auch noch heute prägen. Die Autorin hat übrigens sogar einen Masterabschluss in Genderstudies.

Aber ob sie nun über das Patriarchat, Lenin oder den Tod schreibt: Volha Hapeyeva ist mit ihrem ironischen Blick auf die Vergangenheit wirklich witzig. Das macht Camel Travel mit seinen kurzen Kapiteln zu einer sehr kurzweiligen Geschichtsstunde, aus einer anderen Perspektive.

Den Trailer zum Buch mit original Kindheitsbildern der Autorin gibt es auf Youtube zu sehen. Darin ebenfalls zu bewundern: Ein Foto, auf dem Volha auf einem Kamel reitet. Das Kamel hat ebenfalls einen nicht unwichtigen Auftritt im Buch und dient als Inspiration für den Titel.

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