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Bis es einen niederbrackt: Juli Zehs Roman „Über Menschen“

Klimakrise, Coronakrise, Familienkrise und dann auch noch Nazis nebenan - all das ist Thema in Juli Zehs neuem Roman „Über Menschen“. Und dabei ist das eine überraschend zärtliche Auseinandersetzung mit der Gegenwart und ein absoluter Page-Turner.

Von Maria Motter

Astronauten seien die nettesten Menschen der Welt, hört die Hauptfigur in Juli Zehs neuem Roman im Radio. „Über Menschen“ heißt das heute erschienene Buch, in dem es - zwischen dem Weltall auf YouTube und dem Abgrund im Nachbargarten - vor allem um unser Miteinander geht. Nach dem Bestseller „Unter Leuten“, der als Serie verfilmt worden ist, spielt auch „Über Menschen“ fern der Stadt in der deutschen Provinz. Die Geschichte, die Juli Zeh hier erzählt, könnte gegenwärtiger gar nicht sein.

Die Werbetexterin Dora hat eine Hündin namens Jochen-der-Rochen und ihren Freund Robert an Greta Thunberg und die Klimabewegung verloren. Der Freund ist nicht wiederzuerkennen, er lebt die Endzeitstimmung auch im Beruf als Journalist und Corona kommt ihm da noch gerade recht.

Dora rebelliert gegen die zunehmend autoritären Prinzipien ihres Freundes, indem sie erst eine Pfandflasche im Restmüll versenkt, dann weitere bei jeder Hiobsbotschaft in den internationalen News, dann haut sie ab. Eineinhalb Stunden mit dem Regionalexpress außerhalb von Berlin steht im fiktiven Nest Bracken ein ehemaliges Gutsverwalterhäuschen, das Dora sich noch vor der Pandemie gekauft hat. Es dauert keine zwei Tage, bis der Dorfnazi vorstellig wird.

„Über Menschen“ könnte gegenwärtiger nicht sein

Als Corona über die Welt gekommen ist, hatte Juli Zeh die erste Fassung ihres neuen Romans fertig. Die Entscheidung, das Manuskript sein zu lassen oder es zu adaptieren, ist zum Glück für die Mehrarbeit und die Veröffentlichung ausgefallen.

Juli Zeh beschreibt in „Über Menschen“ einen vermeintlichen Ausstieg, der zu einem Einstieg wird. Die Auseinandersetzungen in den Social Media und Kommentarspalten über Pandemie, Klimakrise und Kinder finden sich hier reflektiert im Verlauf des Romans und das ohne Überheblichkeit. Dora beschwört eine Skepsis und eine Mitte, die einem in der so gern herbeigerufenen Spaltung der gereizten Gesellschaft so viel abverlangt. Aber wie viel Freund kann ein Nazi sein? Hat am Ende der Kleinunterhalter recht, der die Straße runter mit seinem Lebensgefährten wohnt, AfD-Sticker am Postkasten und ein auffälliges Nebengebäude hinter dem Haus, wenn er behauptet, dass es nicht darum ginge, Widersprüche aufzulösen, sondern diese auszuhalten?

Die Dorfgeschichte, die Juli Zeh jetzt erzählt, ist trotz ihres immer flotteren Schreibstils und Witzes von großer Innigkeit. Ausgerechnet der Mann, der sich selbst als der Dorfnazi vorstellt, entpuppt sich als jener Kobold, der Dora ungefragt Möbel ins Haus stellt. Dann taucht noch ein Mädchen auf, und das eigentliche Drama nimmt seinen Lauf.

Tatsächlich hat Dora das Gefühl, dass hinter ihr in den Brombeeren etwas sitzt. Größer als eine Fee. Vielleicht ein Elf oder Kobold. Der Eichelhäher schüttelt sich noch einmal und verschwindet im Wald.

Ein kleiner Hund sitzt auf einer leeren Straßen, ringsum nur Felder. Das ist das Cover von Juli Zehs Roman "Über Menschen"

Luchterhand

Juli Zeh „Über Menschen“ ist 2021 bei Luchterhand erschienen.

„Über Menschen“ ist ein Page-Turner und am Ende eine doppelte Vater-Tochter-Geschichte. Auf dieser Ebene zeigt sich Juli Zehs Talent, nicht über Menschen, sondern von Menschen zu erzählen, besonders zärtlich. Denn bei aller Aktualität ist „Über Menschen“ kein Corona-Roman. Juli Zeh schenkt uns mit „Über Menschen“ mehr als ein Logbuch der Gegenwart, sie verweist auf Größeres, im Kern auf all die Liebe und den Schmerz, den Eltern-Kind-Beziehungen mit sich bringen. Doras Vater gehört einer Generation an, die sich der Bürgerlichkeit und des Humanismus als Kompass bedienen. Dieser Mann, der als Neurochirurg systemrelevant ist und seine Wahrnehmungen als Feststellungen, nicht als Vorwürfe formuliert, erfüllt seine Aufgabe auch im Roman.

„Menschen, Mantas, Mikroben - alles Spielarten desselben Seins“, heißt es an einer Stelle. Doch was das Tier vom Menschen unterscheidet, steht 134 Seiten weiter. Die Schönheit des Daseins stellt sich dann beim Lesen wie von selbst ein, ausgerechnet, wenn man nicht mehr von außen auf Bracken blickt, sondern schon mittendrin ist. Wenn man den Astronautenblick aufgegeben hat. Am Ende kann sich keine*r entziehen. Und diese Versöhnlichkeit mit der Welt ist dann fast schon wieder so zauberhaft, dass man als Nächstes „Eichelhäher“ in die YouTube-Suchmaske tippt.

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