Die Kinder vom Kotti: „Kokon“ ist ein Gegenprogramm zu „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“
Von Maria Motter
Nora ist vierzehn und gerade auf einer Party angekommen. Ein Bursch zieht sie auf den Balkon, unten im Hof stöbert ein Fuchs, den muss sie sehen. Der fabelhafte Moment in dieser Szene ist allerdings Noras Blick, das Tier ist interessant, aber in Berlin nun auch wieder nicht derart exotisch. Dafür trägt das Nesthäkchen Nora das silberne Einhornkostüm aus der Jugend ihrer Mutter und will nur Romy sehen. Als der Bursch sie küsst, erwidert sie die Annäherung nicht. Sie begründet ihm vielmehr aufrichtig, in wen sie wirklich verliebt ist.
Lena Urzendowsky geht als Nora in der Coming-of-Age-Geschichte „Kokon“ durch ein Bad der Gefühle für die schöne Romy, die Jella Haase mit dem blondiertem Kurzhaarschnitt eines Hinterhofpunks und einer großen Freiheitsliebe spielt. Wie schon in „Fuck ju Göhte“, Teil 1 bis 3, ist sie für ihren Charakter eine glaubwürdige Jugendliche, doch das ganze Drama eines Teenagersommers spielt sich in Lena Urzendowskys Mimik ab.
Martin Neumeyer/Jost Hering Filme
(Fast) alle Ehrenfrauen
Die 21-jährige gebürtige Berlinerin Lena Urzendowsky arbeitet seit sieben Jahren als Schauspielerin. Ihr Gesicht entdeckt man derzeit in den großen aktuellen deutschsprachigen Serien von „Shadowplay“ über „How to sell drugs online (fast)“ bis hin zu „Wir Kinder von Bahnhof Zoo“, wo sie die drogensüchtige Stella verkörpert.
In Leonie Krippendorffs zweitem Spielfilm „Kokon“ ist alles mehr down to earth. Der Filmtitel versichert von Anfang an: Hier stürzt niemand ab, so hoch die Balkone der Wohnbauten aus den 1970er und 1980er Jahren am Kottbusser Tor auch liegen. Hier tastet sich jemand an Freiheiten heran, die Erwachsenwerden mit sich bringt. Diese Jugendlichen vom „Kotti“ - wie Berliner den Verkehrsknotenpunkt abkürzen - sind ein Gegenprogramm zu „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“.
Denn bei allen Möglichkeiten zur Eskalation hat sich die Drehbuchautorin und Regisseurin dagegen entschieden. Das weibliche Periodensystem und der erste Liebeskummer bieten genug Anlässe für Überforderung. Die Lehrer sind nicht übel, das Shisha-Lokal ist der Club und Jungs und Mädchen der vierten Generation sind hier keine Sozialfälle, sondern einfach Freunde. Und auch wenn Lenas Mutter mehr feiert als ihre Teenagertöchter, darf man nicht gleich auf ein liebloses Verhältnis und Verwahrlosung schließen. Ein Sommer in Berlin bedeutet Nachmittage im Freibad und die Köpfe nicht zu auffällig vom Smartphone nach den Gleichaltrigen zu drehen. Freundschaft triumphiert über Poserei. Auch in einer Großstadt gibt es die glückliche Jugend.
Martin Neumeyer/ Jost Hering Filme
Dé¬jà-vus und David Bowie
Wirklich neu ist die Geschichte natürlich nicht. Nächtliche Ausflüge ins Schwimmbad kennt man im deutschen Kino, viele Bilder erzeugen Déjà-vus. David Bowies „Space Oddity“ ist Pflicht im Soundtrack, doch wie Jella Haase sich dazu vor den Mitschüler*innen an eine Leinwand stellt und auf ihrem Oberkörper Explosionen passieren, ist eine Klasse für sich.
Die Berlinerin Leonie Krippendorff zelebriert einen realistischen Blick, gerade so, als hätte sie sich Jugendlichen von nebenan mit einer Kamera angeschlossen und wäre ihnen die Straße entlang gefolgt, bloß immer wieder kurz abgelenkt durch einen besonders tollen Sonnenstrahl, den sie auch noch einfängt. Der Jugendfilm „Kokon“ ist gute eineinhalb Stunden Sommerkino, halt jetzt für zuhause.
Publiziert am 23.03.2021