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Pixabay / CC0

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Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt

Dass es für den sozialen Aufstieg in Österreich viel mehr braucht als Leistung, zeigt das Buch „Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt“. Betina Aumair und Brigitte Theißl lassen 11 Menschen zu Wort kommen, die ihren schwierigen Aufstieg aus der Arbeiter- oder Armutsklasse schildern – entgegen aller Wahrscheinlichkeiten.

Von Claudia Unterweger

„Wesentlich war für mich der Glücksmoment, einen Lehrer in der Schule gehabt zu haben, der zu mir gesagt hat: du könntest eventuell eine Maturaschule machen.“

Brigitte Theißl / Betina Aumair: Klassenreise

ÖGB Verlag

„Klassenreise“ von Brigitte Theißl und Betina Aumair ist im ÖGB Verlag erschienen.

Wenn die Literaturwissenschafterin Betina Aumair im FM4-Interview über ihren Weg raus aus armen Verhältnissen am Land in Oberösterreich erzählt, wird deutlich, welche wichtige Rolle der Zufall spielt. Die Lehrerin, die dein Talent erkennt, die Freundin aus der Volksschule, die dich mitzieht aufs Gymnasium. Eltern, die bereit sind, Opfer zu bringen, damit du nicht schon mit 15 die Schule beenden und dir den Lebensunterhalt verdienen musst.

Auch im Leben von Aumairs Co-Autorin, der Journalistin Brigitte Theißl, war viel Zufall im Spiel. Sie ist als Arbeiter*innenkind in einem Dorf in der Südsteiermark aufgewachsen. „Meine Schwester und ich waren die Ersten in der Familie, die studiert haben. Aber da gab es keinen großen Plan dahinter. Der Unterschied zu Kindern aus dem Bürgertum war, dass wir keine Sicherheit hatten und nicht schon in der Volksschule oder im Gynmasium wussten, wie unser Weg verlaufen würde. Wir haben uns immer nur von einer Station zur nächsten gehantelt.“

Wer schafft es nach oben?

In keinem anderen Land der Eurozone sind Erbschaften so entscheidend für den sozialen Aufstieg wie in Österreich. Dass jedoch nicht nur Wertpapiere und Eigentumswohnungen, sondern auch Bildung und Klassenzugehörigkeit immer noch größtenteils vererbt werden, ist längst kein Geheimwissen mehr. Statistiken zur Durchlässigkeit des Bildungssystems bestätigen: wer hierzulande in ein armes, bildungsfernes Umfeld hineingeboren wird, hat gute Chancen, auch dort zu bleiben.

Betina Aumair

Robert Lösch

Betina Aumair

Diejenigen, die es den Bildungsaufstieg doch schaffen, tun sich meist schwer, über ihre Herkunft zu sprechen. Zu groß ist das Stigma, das der Armut anhaftet. Umso bemerkenswerter ist die Offenheit, mit der die Porträtierten im Buch „Klassenreise“ über ihren Weg erzählen.

Deine Armut kotzt mich an

So ist zu lesen, dass man oft auf Schweigen oder Unbehagen trifft, wenn man etwa in der Kolleg*innenrunde darüber erzählt, dass der eigene Vater Straßenkehrer, die Mutter Putzfrau ist. Oder man in einem Haushalt aufgewachsen ist, wo beide Eltern die meiste Zeit arbeitslos waren. Theißl und Aumair beschreiben Strategien der Scham: „Nichterzählen, ausweichend antworten, rechtzeitige Toilettengänge, um solche Situationen zu vermeiden.“

An den Geschichten im Buch wird deutlich: auch wenn Begriffe wie Klassengesellschaft wie von Gestern wirken und heute eher von sozialer Schicht oder Milieu die Rede ist - Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, ist real. Und wird verstärkt durch Rassismus oder Sexismus. Wenn hochrangige Politiker Migrant*innen und alleinerziehende Sozialhilfebezieher*innen als Last diffamieren oder davon sprechen, dass nur noch wenige aufstehen würden, um zu arbeiten - Alltagsbeispiele für Klassismus gibt es viele.

Die Klassenreisenden im Buch erzählen davon, wie sich Armut anfühlt: Barbara Blaha etwa, heute Leiterin des Momentum-Think Tanks, aufgewachsen mit 6 Geschwistern in einem einzigen Kinderzimmer. Oder SPÖ-Lokalpolitiker Senad Lacevic, der von seiner Kindheit in einer Gastarbeiter*innenfamilie aus Ex-Jugoslawien erzählt: Vater Elektroinstallateur, Mutter Hilfsarbeiterin in einer Hühnerfabrik. Von der Substandardwohnung, für die er sich geschämt hat und in die er nicht so einfach Mitschüler einladen konnte. Vom Gymnasium, in dem er festgestellt hat, dass dort kaum andere Kinder mit Migrationshintergrund zu finden waren.

Egal, welchen Alters oder Geschlechts, ob aus Gastarbeiter*innenfamilien, vom Land oder aus der Stadt: die Porträtierten im Buch „Klassenreise“ verbindet auch das Gefühl der Entfremdung. Ein Aufstieg bedeutet, auch vieles aufgeben zu müssen, sagt Performancekünstlerin Julischka Stengele. Sie habe einen hohen Preis bezahlt, spreche nicht mehr dieselbe Sprache wie die Leute aus der Armutsklasse, aus der sie komme. Nirgendwo dazugehören, weder zu denen da oben, aber in das alte soziale Umfeld auch nicht mehr.

Brigitte Theißl

Brigitte Theißl

Kinder aus Arbeiterinnenfamilien, die sich den Bildungsaufstieg erkämpft haben, lernen schon früh, dass die Welt, in der sie sich behaupten müssen, nicht für sie gemacht ist. Die meisten Erzählungen im Buch „Klassenreise“ zeigen: der formale Bildungsabschluss ist nur das Eine. Mindestens ebenso wichtig sind ungeschriebene Regeln, Verhaltensweisen, Kontakte und Netzwerke. Dinge, mit denen Kinder aus privilegierten Familien ganz selbstverständlich aufwachsen. Und die oft bei der Jobsuche und dem späteren Einkommen die entscheidende Rolle spielen. „Bürgerliches Klassenbewusstsein bedeutet, sich von klein auf keines Klassenbewusstseins gewahr zu sein“, bringt es Natascha Strobl im Vorwort auf den Punkt.

Als Anleitung zum sozialen Aufstieg wollen die Autorinnen ihr Buch Klassenreise nicht verstanden wissen. Es sei ein Plädoyer dafür, das Bildungssystem umkrempeln: „Wir wollen nicht mehr Arbeiterkinder aufs Gymnasium bringen, sondern das Gymnasium abzuschaffen. Es geht nicht um die Frage, wie können sich mehr Leute durchkämpfen in einem System, das ganz viele ausschließt und unten hält. Wir fordern das gute Leben für alle.“

FM4 Auf Laut: Von unten nach oben

Nur 15 Prozent der Kinder aus den einkommensschwächsten Familien schaffen es nach oben. Warum ist der soziale Aufstieg in Österreich so schwer? Wie geht es denen, die es von unten nach oben schaffen? Wie sehr bestimmt die soziale Herkunft die finanzielle Zukunft? Alex Augustin diskutiert in Auf Laut mit Autorin Brigitte Theißl und Anrufer*innen.

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