Adam Curtis erzählt Weltgeschichte anders
Von Natalie Brunner
Adam Curtis hat für seine kolossalen Projekte eine Form gefunden, die zwischen wissenschaftlicher Abhandlung, Found-Footage-Collage und Diavortrag rangiert. Curtis erzählt in seinen bisweilen achtstündigen Dokuserien von komplexen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Zusammenhängen auf unterhaltsame, bedrohliche, psychedelische und amüsant entlarvende Art. Sie wirken wie Zusammenfassungen von kuriosen Fußnoten der Geschichte, die - durch Curtis Art, sie ineinander zu verschachteln - in der Lage sind, die Gegenwart zu decodieren. Er selbst ist als Erzähler zu hören, der - von verschiedenen historischen Konstellationen ausgehend - seine Thesen wiederholt, widerlegt und neu aufrollt.
Wie sind wir in dieser verwirrenden Zeit angekommen?
Adam Curtis ist von den Geschichtsphilosophien von Karl Marx und Michel Foucault beeinflusst. Er geht beim gegenwärtigen westlichen Menschen von ideologischer Orientierungslosigkeit und Isolation im Individualismus aus. Anhand von verschiedenen historischen Strängen und Biographien von Figuren, die bisher lediglich in der zweiten oder dritten Reihe der Geschichtsschreibung gestanden sind, versucht er, zu erklären - oder besser zu erzählen -, wie wir in einer uns verwirrenden Gegenwart angelangt sind.
Immer wieder sind es die Geister der Vergangenheit, die uns heimsuchen. Immer wieder sehen wir, wie der ungeahnte und von seinen Schöpferinnen nicht intendierte Gebrauch von Wissen die Menschheit zum gegenwärtigen Status quo geführt hat.
Meine erste Begegnung mit dem Werk von Adam Curtis war die Serie „The Century of the Self“ aus dem Jahr 2002. Curtis erzählt über vier Folgen, wie von Edward Bernays, Sigmund Freuds Neffen, das Wissen um das Unbewusste sowohl in das Feld der Werbung als auch das der Propaganda eingeführt wurde, und wie es so zu einem effizienten Instrumentarium der Massenbeeinflussung werden konnte.
„The Century of the Self“ setzt an bei den Wurzeln und Methoden der Konsumkultur und beantwortet die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen versuchen, mittels Konsum Identität und Individualismus zu konstruieren. Das klingt trocken, ist aber wegen Curtis anekdotischem Stil äußerst kurzweilig und amüsant, gespickt etwa mit Geheimdossiers und den Eskapaden koksender Supermodels.
Gewaltige Brocken, schlüssig serviert
Diesen Frühling veröffentlichte Adam Curtis die sechsteilige Serie „Can’t Get You Out of My Head: An Emotional History of the Modern World.“ Nicht nur der Titel, auch die von Adam Curtis gegebene Definition was er mit dem achtstündigen Werk erzählt, ist ein gewaltiger, aber auch schlüssiger Brocken:
„‚Can’t Get You Out of My Head‘ tells the story of how we got to the strange days we are now experiencing. And why both those in power – and we – find it so difficult to move on. It explores whether modern culture, despite its radicalism, is really just part of the new system of power.“
Adam Curtis geht in "Can’t Get You Out of My Head” verschiedenen Fragen nach: Wie konnte es dazu kommen, dass faktische Wahrheit zu etwas Debattierbarem wurde? Warum mangelt es Gesellschaften an den diskursiven Mitteln, damit zurecht zu kommen? Wie ist uns die politische Idee einer kollektiven Solidarität abhanden gekommen? Wie sind wir in einer Wüste des singulären Egoismus gestrandet?
Britischer Kolonialismus, die Black Panthers (im speziellen die Familiengeschichte von Afeni und ihrem Sohn Tupac Shakur) und die Biographie von Maos Ehefrau Jiang Qing, der Architektin der Kulturrevolution, sind drei der zentralen Erzählstränge, mittels derer uns Adam Curtis in diese Gegenwart führt.
Das Gesamtwerk der von Adam Curtis für die BBC produzierten Dokumentationen ist in voller Länge auf seinem Youtube Kanal zugänglich.
Publiziert am 30.03.2021
