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Noga Erez Album "Kids"

Dudi Hasson

Neues Noga Erez-Album „Kids“

Noga Erez aus Tel Aviv macht mit ihrem zweiten Album „Kids“ einen großen Schritt in Richtung Pop. Stänkern kann sie aber nach wie vor ziemlich gut.

Von Christian Lehner

Dieser Satz blieb vom letzten Interview hängen: „Alles in Israel ist politisch“, sagte Noga Erez anlässlich der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Off The Radar“ vor gut vier Jahren. Zu kantigen Electro-Beats wetterte Erez gegen den Sexismus, die Korruption und die Kriegspolitik in ihrer Heimat. Die Musik reflektierte die Spannung eines Lebens im Krisenmodus. Man ärgert sich über den Lover und zuckt beim Einkaufen gewohnheitsmäßig zusammen, wenn die Sirenen losheulen, während eine restriktiv konservative Politik versucht, die Gesellschaft auf Linie zu halten.

In dem Song „Pity“ rollte Noga Erez den Fall einer öffentlich dokumentierten Vergewaltigung auf, die in Israel hohe Wellen schlug. Das Opfer wurde in den Sozialen Medien einer regelrechten Victim-Blaming-Kampagne ausgesetzt – für Erez ein Beleg für das chauvinistische Gesellschaftsklima in Israel.

Stilbildend auch für Billie Eilish

Und einige Jahre später? Ich spreche Noga (zufällig) am 8. März, dem Internationalen Frauentag, via Videokonferenz. „Wir haben mittlerweile eine deutlich höhere Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit“, erzählt sie in ihrer Wohnung in Tel Aviv. „Im Radio, in den Charts, in der Politik. Aber an einer Sache hat sich nichts geändert: Ich frage meine Freunde immer wieder: Na? Fühlt ihr euch sicher, wenn ihr in der Nacht allein nach Hause geht? Die Männer sagen wie selbstverständlich ‚Ja‘, die Frauen sagen wie selbstverständlich ‚Nein‘.“ Das erzählte Erez einige Tage bevor die mangelnde Sicherheit von Frauen in der Öffentlichkeit durch den Mord an Sarah Everard weltweit zum traurigen Top-Thema wurde.

Noga Erez Album "Kids"

Dudi Hasson

„Off The Radar” war eine Sensation. Das Album klang so eigenwillig anders, so wütend, verstört, selbstbewusst und auch verbindend, wie man das seit dem Debüt von M.I.A. nicht mehr zu hören bekam. Kein Wunder, dass ein Teenager namens Billie Eilish aus dem fernen L.A. über den Papa, der den Kontakt herstellte, zum Fan wurde und Erez bis heute als wesentlichen Einfluss auf ihren eigenen Stil bezeichnet. Man schickt sich seither gelegentlich aufmunternde Textmessages. Pläne für eine Zusammenarbeit gibt es aber (noch?) nicht.

Noga Erez und ihr Lebens- und Produktionspartner Ori Rousso haben sich auf „Kids“ der aktuellen internationalen Popästhetik angenähert. Besonders in den Stücken, in denen Rousso Gesangsparts übernimmt wie etwa in „Views“ oder „New News On TV“, klingt das nach den Gorillaz. „Cipi“ könnte vom Klangbild her wiederum als Billie-Eilish-Appreciation-Song durchgehen. Als weitere Einflüsse nennt Erez Little Simz, Anderson.Paak und Princess Nokia. Die 31-jährige Popsängerin versucht das Offensichtliche nicht zu leugnen, sondern Transparenz herzustellen:

„Erst als wir mit „Off The Radar“ auf Tour waren, wurde mir bewusst, welche Beziehung man zu den Fans aufbauen kann, wie man sie erreichen und direkt berühren kann und ich wurde regelrecht süchtig nach dieser Verbindung. Danach überlegten wir nicht, wie wir unsere Songs zugänglicher, sondern wie wir sie nachvollziehbarer machen können. Es ist etwas, das mich ständig beschäftigt. Was wir sagen, ist okay, wie wir es sagen, daran müssen wir arbeiten.“

Noga Erez Album "Kids"

Shai Franco

Hier geht es zum Interview-Podcast mit Noga Erez.

Den ersten Lockdown nutzten die beiden, um das fertige Album noch einmal zu überarbeiten – textlich und musikalisch: „Plötzlich wurde es still. Keine Emails, keine Anrufe, wir hatten alle Zeit der Welt und wir hatten ein großartiges Studio zur Verfügung. Ori machte unglaubliche Fortschritte in diesen Wochen. Ich schrieb einige Textzeilen um und nahm die Vocals neu auf. Es klingt jetzt so viel besser.“

Im Video-Chat gibt sich Erez gechillt bis angriffslustig. Das gilt auch für das neue Album. Bloß weil „Kids“ poppiger aus dem Lautsprecher tropft, hat Noga Erez nicht verlernt, wie man stänkert. „I’m a pessimist, well. But you think you can mess with me? You think you are the boss of me? But most the time, you’re my bitch”, singt Erez im Eröffnungsstück “Cipi”. Im selben Text richtet sie den Frust auch gegen sich selbst. Der Song beginnt mit der Zeile „I’ve been deep, deep, deep, deep, deeply depressed“.

Als Teenager leidet Noga Erez an Panikattacken. Eine Therapeutin empfiehlt ihr laute Selbstgespräche. Erez, die bis dahin Jazz und hebräische Volksmusik spielte, versucht es mit Spoken Word-Gedichten und findet schnell zum Rap. Für erste Bühnenauftritte erschafft sie sich das Alter-Ego Dasha Snow.

Pop mit Punch

Mit „Kids“ möchte die 31-Jährige ihre Aggressionen produktiv nutzen und gleichzeitig kanalisieren. „Ich bin so uneins mit dieser Welt, mit den Menschen, die andere Menschen übervorteilen, mit den Machtverhältnissen, dass ich einen Ausgleich suchte. Wir alle sind Töchter und Söhne. Diese Feststellung ist so banal wie sie wahr ist. Und Kids kennen nichts Böses. Das hilft zu verzeihen und sich nicht alles so zu Herzen zu nehmen.“

Der versöhnliche Spirit kommt von Nogas Mutter, die mal im Vordergrund (Intro), mal im Hintergrund (hebräische Zwischenrufe in Refrains) zu hören ist und die Motivation hinter dem Song „End Of The Road“ war. „Ich wollte meine Mutter unbedingt auf Platte bannen, damit etwas von ihr bleibt in meiner Musik. In dem Song geht es um die Überlegung, wie wir uns mit unserer Endlichkeit auseinandersetzen, nämlich gar nicht. Der Tod ist eine Perspektive auf das Leben, die wir von Kindheit an verdrängen. Den Tod in Erinnerung rufen hilft mir, das Leben wertzuschätzen und die Menschen zu feiern, die ich liebe.“

Diese existenziellen Themen mögen im Pop schon tausend Mal durchgekaut worden sein, aber eben nicht von allen und nicht auf jede erdenkliche Weise. Erez und Rousso haben ihren Songs die Kanten ein wenig abgeschliffen, doch Stimme, Samples und Sounds drängen noch immer in den Vordergrund, bis die Songs förmlich zu platzen drohen. Das ist High-Energy-Pop, der nicht lange fragt, ob er Zugang zu unseren Hörgängen bekommt.

Die Energie der Noga Erez, die Lust sich zu streiten und an Tabuthemen abzuarbeiten, ist geblieben. In „Fire Kites“ beschreibt sie etwa die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen Militär und den Palästinensern aus der Perspektive junger Kämpfer, die mit in Brand gesteckten Drachen gegen die Raketen der israelischen Streitkräfte antreten. In „You So Done“ erzählt sie grimmig von einer toxischen Beziehung mit einem Ex-Partner: „Calmly, I don’t freak out in public. Take me outside and crush me Over a cup of coffee, ow.”

Das neue Album von Noga Erez ist eine Pralinenschachtel voller Pop-Hits – perfekt in Szene gesetzt und bereit für die Streaming-Portale dieser Welt. Die Unverwechselbarkeit, die noch das Debüt „Off The Radar“ ausgezeichnete, ist allerdings dahin – ein Preis den Noga Erez bewusst und gerne bezahlt hat.

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