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Tove Ditlevsen

Jarner Palle/Ritzau

Tove Ditlevsen: „Wenn ich schreibe, nehme ich auf niemanden Rücksicht“

Nichts weniger als ein literarischer Schatz: die autofiktionale „Kopenhagen-Trilogie“ der dänischen Autorin Tove Ditlevsen liegt erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung vor.

Von Lisa Schneider

„Bild dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann nicht Dichter werden“. Einer der unheilschwangeren Sätze, mit denen Tove Ditlevsen den ersten Teil ihrer „Kopenhagen-Trilogie“, „Kindheit“, eröffnet. Der Vater sagt’s zur damals siebenjährigen Tochter, im Halbsatz zuvor preist er Gorki als „großen Dichter“. Das Mädchen will es dem alten Russen gleichtun. Der Weg dahin ist mühsam.

Die 20er-Jahre. Schauplatz ist die Istegarde, eine auch heute noch sehr belebte Straße im Kopenhagener Stadtviertel Vesterbro. Da, wo „betrunkene Männer mit zerschmetterten, blutigen Schädeln in der Gosse liegen“, wo man in bestimmten Cafés auch schon mal „abgemurkst“ wird, wo sich illustre Gestalten wie der „Krätze-Hans“ oder die „Schön-Lili“ herumtreiben. Dort, wo die Arbeiterkinder aus Ermangelung an Wohnraum auf die Straße geschickt werden, um zu spielen, aber auch erste Erfahrungen mit Missbrauch und Sexualität direkt hinter den Mülltonnen zu sammeln.

Kein Zimmer für sich allein

Viel Platz hat auch die Familie Ditlevsen nicht. Sie lebt zu viert in einer Zweizimmerwohnung. Der Vater arbeitet als Heizer, er ist ein müder, nicht selten zorniger und literaturinteressierter Mann. Das Verhältnis Toves zu ihrer Mutter ist „eng, qualvoll und unsicher“, nach „Zeichen von Liebe muss sie immer suchen“. Der Bruder, Edvin, soll es einmal besser haben, soll aufsteigen, vom einfachen Arbeiter zum Handwerker. „Handwerker haben richtige Tischdecken statt Zeitungen, und sie essen mit Messer und Gabel. Sie werden niemals arbeitslos, und sie sind keine Sozialisten“. Klar ist auch die Rangordnung unter den Geschwistern: „Edvin ist schön, und ich bin hässlich. Edvin ist klug, und ich bin dumm. Das sind unumstößliche Wahrheiten, so, wie die weißen Druckbuchstaben am Giebel des Bäckers in unserer Straße.“

Der erste Weltkrieg ist vorbei, die Hoffnungen der Eltern liegen bei ihren Kindern. Söhne sollen im besten Fall gesellschaftlich aufsteigen um die Eltern später einmal zu versorgen. Für Frauen sind zwei Dinge vorgesehen: heiraten und Kinder bekommen.

„Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann.“

Es ist 1918, als die Protagonistin Tove Ditlevsen geboren wird, genau ein Jahr nach der Autorin dieser drei Texte. Diese kleinen Verschiebungen verwischen die Grenze zwischen Realität und Fiktion zwar nicht maßgeblich, erinnern aber daran, dass hier drei Romane, und keine Autobiographie vor uns liegt.

„Kindergedichte“ und notwendige Hochzeiten

Im zweiten Band, „Jugend“, ist Tove bereits eine junge Erwachsene. Die Chance, das Gymnasium zu besuchen, wird der 14-Jährigen abgeschlagen. Sie geht von der Schule ab und nimmt ihre erste Anstellung als Dienstmädchen an. Es ist der erste Job von vielen. Während sie, unglücklich und einsam, darauf harrt, mit 18 Jahren endlich das elterliche Zuhause verlassen zu können, beginnt sie, Gedichte in ihr Poesiealbum zu schreiben: „(...) und ich träume immer davon, einen geheimnisvollen Menschen zu treffen, der mir zuhört und mich versteht. Ich weiß aus Büchern, dass es solche Menschen gibt, aber kein einziger davon lebt in der Straße meiner Kindheit.“

Als „Kindergedichte“ bezeichnet ein Redakteur ihre ersten Schreibversuche, aber „sie solle in ein paar Jahren wiederkommen“.

In fast immer chronologischen, kurzen Episoden und klarer Sprache erzählt Tove Ditlevsen von einem Frauenleben im 20. Jahrhundert, vom Versuch der Emanzipation, von Unverständnis und Intoleranz, von ihren ersten schriftstellerischen Träumen und später auch ersten Erfolgen. Sie wird einen 30 Jahre älteren Redakteur heiraten, er gibt die auflagenschwache Zeitschrift „Wilder Weizen“ heraus und veröffentlicht darin ihr erstes Gedicht. Die Ehe ist eine unglückliche, aber das ist der Preis. Es ist die erste von vielen.

Erfolg und Sucht

„Abhängigkeit“ heißt der dritte Band der Trilogie. Tove heiratet den Arzt, der einen heimlichen Schwangerschaftsabbruch bei ihr vornimmt. Bei ihm kommt sie zum ersten Mal in Berührung mit dem Beruhigungsmittel Pethidin: „Dann sticht er zu, und während die Flüssigkeit aus der Spritze in meinem Arm verschwindet, breitet sich eine nie gekannte Seligkeit in meinem ganzen Körper aus.“ Es ist der Beginn einer jahrelangen Sucht, begleitet von literarischen Erfolgen, mit Gedichtbänden, später auch mit Romanen. Tove Ditlevsen taucht ein in die literarische Szene, macht sich einen Namen, sitzt an Gala-Tischen neben Zeitgenossen wie Evelyn Waugh, wird Mitglied im P.E.N. Club. Sie ist es, die über viele Jahre ihre Familie ernährt, die in hohen Mengen Methadon und andere Beruhigungspillen einnimmt. Nach einigen Jahren des Missbrauchs wird sie abgemagert, antriebslos und schwer suchtkrank in eine Entzugsklinik gebracht. Dort wird sie beginnen, die „Kopenhagen-Trilogie“ zu schreiben.

„Three small books, one monumental writer...“

... schreibt Patti Smith auf Instagram, sie hat wie immer Recht. Und auch wenn sie mit ihren Büchern aktuell erst den Rest der Welt erobert, ist Tove Ditlevsen in Dänemark längst eine Berühmtheit. Sie und ihr Werk - dazu gehören Gedichtbände, Romane, Essays und auch Kinderbücher - sind ein wichtiger literarischer Zitier- und Bezugspunkt junger Schriftsteller*innen und ihre Bücher zählen zur Schullektüre. Auch, wenn sie seltsamerweise nie mit einem Literaturpreis ausgezeichnet worden ist.

Nur der dritte Teil der Trilogie, „Abhängigkeit“, ist vor gut zwanzig Jahren schon einmal im Suhrkamp-Verlag erschienen. Alle drei Bücher liegen jetzt endlich in deutscher Übersetzung von Ursel Allenstein vor.

Buchcover "Kindheit" von Tove Ditlevsen

aufbau Verlag

„Kindheit“ ist der erste Band der Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen. „Jugend“ heißt der zweite, „Abhängigkeit“ der dritte Teil. Ins Deutsche übersetzt hat Ursel Allenstein.

Man findet sie aktuell auf allen gut ausgesuchten Büchertischen, sie stehen auf allen Bestsellerlisten. So wie vor kurzem die Erinnerungsbücher von Annie Ernaux. Und so wie interessanterweise auch wieder „Die Rückkehr nach Reims“ des ebenfalls französischen Autors und Soziologen Didier Eribon (auf Deutsch schon 2016 erschienen, taucht es aktuell allenorts wieder auf; womöglich wegen des jüngsten, französischen Neuzugangs dieser Inhalts- und Erzählweise, Edouard Louis).

Sie beide, Ernaux und Eribon, haben Jahrzehnte nach Tove Ditlevsen geschrieben, aber es sind sehr ähnliche Geschichten eines erkämpften gesellschaftlichen Aufstiegs, einer Abnabelung von der elterlichen Arbeiterwelt. Wo Ernaux oder Eribon aber immer - und so auch Karl Ove Knausgard, der den autofiktionalen Boom mit seinem mehrteiligen Werk „Min Kamp“ vor einigen Jahren wieder angekurbelt hat - eine erzählerische Metaebene einziehen, soziologische Betrachtungen anstellen und intertextuelle Querverweise setzen, bleibt Tove Ditlevsen immer bei sich und ihrer Geschichte. Das macht die Triologie zum einen sehr lesbar, es sind drei schlanke, in knapper, oft lakonischer Sprache verfasste Bücher. Zum anderen macht sie der fehlende reflektive Erzählabstand zeitlos.

Ein Begriff, der all die genannten Romane prägt, ist die „soziale Scham“, auch „Herkunftsscham“. Didier Eribon beschreibt mehrmals „das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören“. Von diesem Unbehagen liest man bei Tove Ditlevsen, wenn sie etwa die Straße ihrer Kindheit beschreibt, „deren Rhythmus für immer in meinem Puls pulsieren wird.“ Es ist eine schmerzvolle Diskrepanz und notwendiger Verrat, die Eltern in den ärmlichen Verhältnissen zurückzulassen, sich selbst etwas Besseres zu wünschen und zu suchen. Nur der gesellschaftliche Aufstieg bedeutet Freiheit, und ohne Freiheit kein Schreiben. Wir sind hier beim oft zitierten, notwendigen „eigenen Zimmer“.

Entstanden sind die drei Bände der „Kopenhagen-Trilogie“ zwischen 1967 und 1971. 1976 hat sich Tove Ditlevsen das Leben genommen.

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