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Porträtfoto von Emilie Pine

Ruth Connolly

Buch

„As soon as you break the silence, all the stories come pouring out.“

Die 1974 geborene Irin Emilie Pine lehrt Modernes Theater am University College in Dublin. In „Botschaften an mich selbst“, das in Irland unter dem Titel „Notes to Self“ erschienen ist und 2019 mit dem „Irish Book of the Year“- Award ausgezeichnet wurde, wendet sie sich ihrem jahrzehntelang ignorierten Körper zu, mit all seinen Verletzungen und Blessuren.

Von Anna Katharina Laggner

Eines vorweg: wer Ich sagt, meint selten das eigene Selbst in all seinen Ausprägungen und Verzweigungen. Steckt das Ich zwischen zwei Buchdeckeln, ist es – egal, wie ehrlich und echt das Innerste nach außen gestülpt sein mag – eine literarische Figur. Als ich mit Emilie Pine via Skype spreche, habe ich dennoch einen Moment der Irritation: es kommt mir seltsam vor, sie zum ersten Mal zu sprechen, denn sie hat mir davor doch schon so viel über sich erzählt wie ich sonst über nur wenige andere Menschen weiß!
Ich weiß, dass sie zu starker Körperbehaarung neigt, sich wegen ihrer Neurodermitis die Achselhaare aber nicht rasieren kann, ich weiß, dass sie sich als Kind einsam gefühlt hat und ihr Vater Alkoholiker ist, ich weiß, dass sie als Jugendliche vergewaltigt wurde und sich das selbst jahrelang nicht eingestand.
Aber ich spreche zum ersten Mal mit Emilie Pine und dieses Interview unterscheidet sich nicht von anderen: ich spreche mit ihr persönlich, aber nicht über private Dinge. Die Grenzen zwischen privat und persönlich, zwischen intim und voyeuristisch, Emilie Pine stellt sie in „Botschaften an mich selbst“ hart auf die Probe. Und sagt:

„The book is written as a series of short essays, it is not a memoir from start to finish, so for me the challenge was choosing where to start and when to end. So as soon as you start imagining those different outcomes, you also start to realize that who we are and how we tell stories about ourselves are slightly different things. And you can bring yourself into being through telling a story and can you hide or you can choose to reveal something previously hidden.”

Emilie Pine und ihr Vater

Ninian Falkiner

Emilie Pine mit ihrem Vater Richard

Emilie Pine hat was in „Botschaften an mich selbst“ steht, erlebt. Sie schreibt über ihr Schamgefühl in Bezug auf Blutungen, sie schreibt über Orgasmen und Sex und hat in dem Essay „Aus den Babyjahren“ ihre zahlreichen Versuche, schwanger zu werden, ihre zahlreichen Fehlgeburten und die grundsätzlich quälende Frage „will ich Kinder?“ protokolliert. Emilie Pine erzählt von ihrer Anorexie, von Burnout und einem Achtsamkeitstraining für Akademikerinnen.
Das Buch beinhaltet sechs thematische Essays. Der deutsche Verlag btb schreibt, Emilie Pine spreche wie niemand sonst darüber, was es heißt, im 21. Jahrhundert eine Frau zu sein.
Aus dieser Ankündigung heraus hat mich der erste Satz von „Botschaften an mich selbst“ zumindest verblüfft. Er lautet:

„Als wir ihn finden, liegt er schon seit Stunden in seinem Kot.“

Der, der da liegt, ist Emilie Pines Vater. Und der Ort, an dem er liegt, ist das Allgemeine Krankenhaus von Korfu.

„Mein Vater sieht uns verzweifelt an. Ich bitte meine Schwester, bei ihm zu bleiben, und gehe hinaus in den Flur, wo ich jedoch nur andere Patientinnen, Patienten und deren Familien antreffe. Ich gehe zur Schwesternstation, aber da ist niemand. Als ich wieder umkehre, ohne die leiseste Ahnung, was ich jetzt tun soll, spricht mich eine Frau auf Englisch an. Sie fragt, ob alles in Ordnung sei, und ich ergreife die Chance und frage, ob sie wisse, wo die Krankenschwestern wären. „Krankenschwestern gibt es hier nicht“, sagt sie. Ein älterer Mann beugt sich zu mir: „Wenn man hier keine Familie hat, stirbt man.“

Emilie Pines Vater ist Alkoholiker. Er hätte sich fast zu Tode gesoffen. Auf Korfu kämpfen die beiden Schwester um sein Überleben. Sie bestechen ihn, den Schriftsteller, wenn er nicht essen will, mit Stift und Papier. Sie decken ihn zu, wenn er friert. Sie waschen ihn und beziehen sein Bett frisch. Emilie Pine wird sich erinnern, wie schwierig es für ihr jüngeres Ich war, einen Süchtigen zu lieben.

Das Ich in der Literatur

„Was ist die wahre Rolle des Autobiographischen in der Literatur? Jahrelang hielt ich es für eine Art Schwäche, ein Versagen der Phantasie, eine etwas peinliche Angelegenheit.“, schreibt die Autorin Zadie Smith in einem ihrer wunderbar inspirierenden Essays mit dem Titel „Das Ich, das ich nicht bin“.

cover von Botschaften an mich selbst

btb Verlag

„Botschaften an mich selbst“ wurde von Cornelia Röser übersetzt und ist im btb Verlag erschienen.

Es gibt im angloamerikanischen Raum, vor allem in den USA, eine Tradition des Schreibens, in dem Frauen die Kultur und Gesellschaft, in der sie leben, über eigene, persönliche Erfahrungen darstellen und kritisieren. Joan Didion etwa, die in „Woher ich kam“ ihr eigenes Aufwachsen mit der Geschichte Kaliforniens verbindet, Meghan Daum, deren Bücher „The Unspeakable“ heißen oder „The Problem with Everything“. Auch Rachel Cusk zählt dazu, die in „Lebenswerk“ im Angesicht ihrer eigenen Mutterschaft das literarische Frauenbild in Frage stellt. Man könnte diese Liste lange fortsetzen. Was diese Schreibenden verbindet, ist, dass sie „Ich“ sagen und dass ihre Texte als nicht-fiktional gelten. Interessanterweise werden die Bücher des größten Ich-Sagers der Gegenwartsliteratur als Romane verkauft. Insofern kann man verstehen, dass Karl-Ove Knausgard Schriftstellerinnen nicht als Konkurrenz betrachtet. Das sagte er der Autorin Siri Hustvedt einmal auf einer Bühne. So langweilig und lästig es auch ist, man kommt bei der Beschäftigung mit autobiographischer Literatur nicht darum herum, Unterschiede in der Anerkennung dieser Werke festzustellen.
Doch zurück zu Zadie Smith, die davon überzeugt ist, dass „die Verfasserinnen autobiographischer Texte praktisch genau dasselbe tun wie ich: Sie ordnen Sätze auf einer Seite an und erzielen damit Effekte.“

Der Langweiler Kurt Cobain

Als Jugendliche stand Emilie Pine einmal neben Kurt Cobain an einer Bar, er rauchte Light-Zigaretten und „trank etwas, das wie Gin Tonic aussah. Ich tat ihn verächtlich als Langeweiler ab und drehte mich weg“ schreibt Emilie Pine im Essay mit dem lapidaren Titel „Etwas über mich“. Es ist der beklemmendste Text im Buch, hart an der Grenze zum Erträglichen. Emilie Pine schreibt darin über ihre Jugend, in der sie - ganz banal - gefallen wollte und daher nichts ausgelassen hat und alles über sich ergehen ließ.
Ihr Körper hat sich als zäh erwiesen. Er hat jahrelanges Hungern ertragen. Er steckte bei eisigen Temperaturen in kurzen Röcken. Er hatte eine Bewohnerin, die Worte wie gegenseitiges Einverständnis, Grenzen, toxisch nicht kannte. Emilie Pines Körper war geduldig, jahrelang hat er darauf gewartet, dass sie Frieden mit ihm schließe: „Botschaften an mich selbst“ ist dieses Friedensangebot.
Im Hinblick auf die darin enthaltenen Schilderungen von Gewalt und Missbrauch, ist der Titel irreführend, denn das Buch ist ein Plädoyer für die Befreiung des weiblichen Körpers von gesellschaftlichen Zuschreibungen. In bester essayistischer Tradition wachsen die intimen, persönlichen und subjektiven Erfahrungen von Emilie Pine über sich selbst hinaus und bekommen Gültigkeiten, mit denen sich viele westlich sozialisierte Frauen identifizieren können. Darüber zeigt sich Emilie Pine zutiefst verwundert:

„I assumed it was the story of a woman in her very early forties who had grown up in an Irish Catholic context where abortion was illegal and divorce was illegal and all these things that other countries had more liberal views on, that only applied to me and my country. What has amazed me is encountering readers in different countries who say this is true for us to. And I think: oh wow, are we still doing this? And something that I think was only a problem growing up in a very repressed Catholic country turns out to be global.”

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