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wirmuessenmalreden/mikrotext/Hannah Marc/FM4

Dear Discrimination ist ein Mitmachbuch zur antirassistischen Weiterbildung

Ob negativ oder weil wir davon begünstigt werden: Rassismus betrifft uns alle. Das aktivistische Netzkollektiv @wirmuesstenmalreden hat einen unterstützenden Ally-Guide verfasst, um die eigenen Diskriminierungsformen zu erkennen und zu entlernen.

Von Alica Ouschan

Dear Discrimination wurde von @wirmuesstenmalreden verfasst und ist im mikrotext Verlag erschienen.

„Dear Discrimination ist nur der Anfang, nicht die Lösung. Ein Versuch, nicht die allumfassende Wahrheit. Ein Moment im Antirassismus-Diskurs. Gehe verantwortungsvoll damit um.“ So beginnt das interaktive Sachbuch geschrieben von Nats, Esin und Julia, den drei mehrgewichtigen indigenous und Women of Color (gewählte Selbstbezeichnung), die seit 2018 den Blog wirmuesstenmalreden betreiben. Dieser soll Plattform und Safer Space für Bi_Pocs und Betroffene von Mehrfach- und Schwermarginalisierung sein. 2020 haben die drei ihr erstes Buch geschrieben, ein Mitmachbuch zur antirassistischen Weiterbildung, das sich explizit an Personen richtet, die nicht negativ von rassistischer Diskriminierung betroffen sind - also an weiße Personen.

Mehr als ein Sachbuch

Das Besondere an Dear Discrimination ist, dass es nicht einfach nur ein Sachbuch zum Thema Antirassismus ist, sondern ein deklariertes Mitmachbuch. Das Buch spricht die lesende Person also durchgehend direkt an und tritt in einen Dialog auf Augenhöhe. Nach jedem Kapitel und manchmal auch zwischendurch stellt das Buch einem Fragen zum Nachdenken oder Aufgaben, die schriftlich ausgearbeitet werden sollen. Besonders hilfreich sind dabei die konkreten Tools und das auf Alltagssituationen zugeschnittene Wissen, die Empfehlungen und Tipps, um in gewissen Situationen bewusst antirassistisch agieren zu können.

Das Buch liefert dabei eine ganze Bandbreite an realistischen Beispielen, um dieses vielschichtige und komplexe Thema leicht greifbar und zugänglich zu machen. In den insgesamt dreizehn Kapiteln werden Themen wie White Fragility, Farbenblindheit, kulturelle Aneignung und Allyschaft aufgedröselt und in einer logischen, aufeinander aufbauenden Reihenfolge behandelt. Dabei richtet sich das Buch, wie bereits erwähnt, in erster Linie an weiße Personen, da diese von rassistischen Strukturen begünstigt sind.

Das Ziel des Buches ist, diese Personen dabei zu unterstützen, ihre eigenen internalisierten Diskriminierungsformen die in Alltagssituationen, oft vollkommen unbewusst, sichtbar werden, zu erkennen, zu analysieren und bewusst dagegen zu arbeiten. Rassistisches Verhalten soll Schritt für Schritt entlernt werden, bis hin zur Allyschaft. Allies sind im Kontext von Dear Discrimination Personen, die nicht negativ von Rassismus betroffen sind, aber sich für Negativbetroffene, Bi_PoC, also Black, indigenous und People of Color, aktiv einsetzen. Das Buch soll in diesem Prozess als Guide unterstützend zur Seite stehen.

Dear Discrimination Foto

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Keine leichte Kost

Dear Discrimination ist definitiv kein Buch, das leicht reingeht – obwohl es simpel, verständlich und zugänglich geschrieben ist. An vielen Stellen muss man erst mal schlucken und darüber nachdenken, wie man sich selbst schon in gewissen Situationen verhalten hat. Und mit großer Wahrscheinlichkeit wird man durch die Schilderungen und das neu gewonnene Wissen, das einem in diesem Buch präsentiert wird, draufkommen, dass man in der Vergangenheit diskriminierende Dinge gesagt, getan oder zumindest gedacht hat. Da geht es auch oft um Dinge, die vor allem weiße Personen im ersten Moment nicht als rassistisch wahrnehmen würden. Ein Beispiel von vielen ist hier die kulturelle Aneignung in Form von Kostümen.

Grundsätzlich sagen die Autorinnen, dass niemand, nicht einmal Bi_PoC frei von rassistischem Verhalten sind, weil es in unserer Gesellschaft systemisch und historisch so tief verwurzelt ist. Weiße Menschen haben aber, aufgrund ihrer Position in diesem System, eine viel größere Verantwortung und mehr Handlungsspielraum, gegen rassistische Strukturen vorzugehen und Bi_PoC zu unterstützen, indem sie lernen wie echte Allyschaft funktioniert und diese praktizieren.

Ein (Ent)Lernprozess

Das Buch ist in diesem (Ent)Lernprozess nie belehrend oder fingerzeigend, sondern lässt Platz für Fehler, bringt der lesenden Person viel Verständnis entgegen und lässt ihr so viel Zeit wie sie braucht. Gleichzeitig erklären die Autorinnen aber auch, dass es nicht der Job von Bi_PoC ist, weiße Menschen über ihr rassistisches Verhalten aufzuklären oder es zu beweisen. Wer mehr über rassistische Strukturen und ihre historischen Hintergründe erfahren will, soll sich selbst weiterbilden.

Obwohl im Buch mehrfach betont wird, dass es nicht den Anspruch erhebt alles abzudecken, was bei der Betrachtung dieses komplexen und vielschichtigen Themas wichtig ist, bietet es einen niederschwelligen Zugang zum Thema Antirassismus für Menschen, die sich bis dato noch nicht damit auseinandergesetzt haben. Zusätzlich ist es auch für jene, die sich viel mit Antirassismus beschäftigen eine praktische Toolbox, die man immer wieder hernehmen und darin nachlesen kann, egal ob für einen selbst, oder für Diskussionen. All dies gipfelt in einem, gemeinsam mit der wirmuessenmalreden-Community ausgearbeiteten Ally-Guide, der als Orientierung für den Alltag verwendet werden soll.

Dear Discrimination Foto

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Für die ganzen komplizierten Begriffe, die auf jeder Seite des Buchs stehen und für große Fragezeichen sorgen können, wird ebenfalls Abhilfe geschaffen. Das große Awareness-Glossar am Ende des Buches erklärt Begriffe wie Intersektionalität, White Saviorism oder Eurozentrismus kurz, prägnant und in einfacher Sprache. Wenn man also beim Lesen auf ein Wort stößt, das man nicht kennt, braucht man nicht googeln, sondern nur zum Awareness-Glossar blättern.

„Dear Discrimination“ ist ein wertvoller Guide für alle, die sich zum Thema Antirassismus weiterbilden wollen und auf der Suche nach einer Toolbox für den Alltag sind. Erst die Kombination aus alltäglichen Beispielen, der leicht verständlichen Herleitung von komplexen Zusammenhängen mit den Denkanstößen und Schreibaufgaben, sowie den grandiosen Zeichnungen von Illustratorin Hannah Marc macht „Dear Discrimination“ zu dem was es sein soll.

Es ist kein Buch, das jeder beliebigen Person einfach so in die Hand gedrückt werden kann, weil das Lesen einem sehr viel Offenheit, Kritikfähigkeit und Mut zum Eingestehen von Fehlern abverlangt. Wer sich aber am Beginn, oder inmitten dieses (Ent)Lernprozesses befindet, wird aus dem Buch viel mitnehmen können. Wie die Autorinnen selbst sagen: Es ist zwar keine magische Lösungsformel für Rassismusbekämpfung, aber sicherlich ein guter Anfang.

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